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Dunkler Zwilling

Dunkler Zwilling

Titel: Dunkler Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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Dann trat sie zurück in das Büro und schloss die Tür. Ihre Augen glitten über die Regalwand. Welchen Ordner hatte Köhler inspiziert? Chiara stellte sich vor den Bereich, in dem sie ihn vermutete und las die Beschriftungen. Gero war ein Ordnungsfanatiker. Alles war akribisch aufgelistet und alphabetisch oder nach Jahreszahlen geordnet einsortiert. A wie Artos. Das war Michelles Pferd. In diesem Regal schienen alle privaten Unterlagen zu stehen. Es gab Ordner für Haus, Krankenkasse, aber auch mit Namen beschriftete für Chiara, Franca, Michelle, Maurice. Maurice! Dieser Ordner stand ein wenig hervor. Hier also hatte Köhler nachgesehen. Hatte sie ihn vorhin mit ihren Vermutungen aufgeschreckt? War ihm etwas in den Sinn gekommen, was ihm vielleicht seine Frau damals erzählt hatte und was er jetzt überprüfen wollte? Zu gerne hätte sie gewusst, was das war, aber aus dem Alten würde sie nichts mehr herausbekommen. Seine Reaktion vorhin hatte etwas Endgültiges gehabt. Chiara setzte sich an den Schreibtisch und blätterte in dem Ordner. Er enthielt alle Unterlagen zu Maurice von Geburt an. Es gab eine Geburtsurkunde. Maurice von Bentheim, geboren am 15.02.1997. Wann hatte Max Geburtstag?, schoss es Chiara durch den Kopf. Dann fiel es ihr ein. 1. März. Ich bin ein Märzhase, hatte er einmal gesagt. Zwillinge, deren Geburt zwei Wochen auseinanderliegt. Gibt es das? Eigentlich nicht. Chiara blätterte das Untersuchungsheft durch. Die Daten der Geburt waren eingetragen. 48 cm, 2500 g. Nirgendwo gab es einen Hinweis auf ein zweites Kind. Chiara blätterte weiter. Es gab die Einladung zur Einschulungsuntersuchung, sogar ein Foto vom zahnlosen Maurice am ersten Schultag. Dann Zeugnisse. Dann ein psychologisches Gutachten aus dem Jahr 2001. Maurice schlief schlecht, hatte Angstzustände und nässte nachts ins Bett. Begründet wurde dies mit dem problematischen Gesundheitszustand der Mutter. Die Empfehlung lautete, Maurice solle sich möglichst wenig in der Nähe seiner Mutter aufhalten. Erschwerend sei hinzugekommen, dass die Haushälterin, Margit Köhler, die sich sehr um Maurice gekümmert habe, erkrankt sei. Es wurde die Empfehlung ausgesprochen, eine neue Bezugsperson für Maurice einzustellen.
    Chiara blätterte zurück. Moment mal. Von wann war das Gutachten? Februar 2001? Im September hatten Gero und Franca geheiratet und die vierjährige Chiara war mit ihrer Mutter im Bentheim-Schlösschen eingezogen. Gero und Franca hatten sich im Frühjahr in Monza kennengelernt, als Gero dort auf einer Geschäftsreise gewesen war. »Das geht mir alles zu schnell«, hatte damals Francas Mutter, also Chiaras Großmutter aus Monza, gesagt. Chiara hatte ohnehin niemand gefragt. Sie musste ihre italienische Familie verlassen und plötzlich in einem anderen Land mit einer ihr fremden Sprache auf einen merkwürdigen, gleichaltrigen Jungen treffen, der plötzlich ihr Bruder sein sollte. Eigentlich waren die Konflikte vorprogrammiert und man musste es als Wunder bezeichnen, dass es ihnen gelungen war, überhaupt einigermaßen miteinander auszukommen.
    Chiara runzelte die Stirn. Da war eine Ungereimtheit! Hatte Gero damals nicht erzählt, Maurice’ Mutter sei kurz nach Maurice’ Geburt gestorben? Und nun stand da in dem Gutachten, dass der Umgang mit ihr ein Problem war. Also musste sie doch im Februar 2001 noch hier im Haus gewohnt haben. Chiara schaute sich beklommen im Zimmer um. Wenn die Wände erzählen könnten! Welche Hölle ist das, wenn für ein Kind die eigene Mutter zum Problem wird? Warum überhaupt? Welche Krankheit hatte diese Frau gehabt? Chiara sprang auf und suchte das Regal ab. Einen Ordner »Friederike von Bentheim« gab es nicht. Und die Frau? Wenn sie 2001 noch gelebt hatte, vielleicht gab es sie immer noch – irgendwo? Das wäre der Schlüssel. Wer, wenn nicht sie, könnte erklären, was damals passiert war. Hier an diesem Ort!
    Mit einem Schlag wurde Chiara bewusst, wie sehr dieses Haus zu ihrem Zuhause geworden war. Hier kannte sie jedes Zimmer, jedes Alltagsgeräusch. Hier gab es so viele Erinnerungen an die Kindheit mit den Geschwistern, an wilde Spiele und Geheimnisse, an Geburtstagsfeste im parkartigen Garten und an die letzten Tage mit Maurice. Und jetzt schien sich dieses Zuhause immer mehr in ein Horrorschloss mit dunkler Vergangenheit zu verwandeln. Sollte sie weiterforschen, oder sollte sie Köhlers Rat befolgen und die Vergangenheit ruhen lassen?
    Chiara schloss den Ordner und stellte ihn vorsichtig

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