Dunkler Zwilling
wieder zurück ins Regal. Nachdenklich ließ sie sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und probierte, eher nebenbei, die mittlere Schublade aufzuziehen.Sie war verschlossen. Chiaras Blicke tasteten suchend über die blanke Arbeitsplatte. Neben der Schreibtischlampe steckten mehrere Stifte in einem röhrenförmigen Behälter. Sie zog die Stifte heraus und fand am Boden des Behälters einen kleinen Schlüssel, der tatsächlich passte. In der Schublade lag lediglich ein Diktiergerät. Chiara drückte die Taste. Es gab keine Aufnahmen. Sie legte das Gerät zurück und tastete den hinteren Bereich der Schublade ab, den sie nicht einsehen konnte. Papier knisterte. Sie zog einen Briefumschlag hervor. Er war mit der Aufschrift »Köhler, Februar« versehen. Der Umschlag enthielt Geld in vielen verschiedenen Scheinen. Chiara zählte 3000 Euro und biss sich auf die Unterlippe. War das nicht ein bisschen viel für einen Gärtner, der zweimal in der Woche kleine Pflegearbeiten erledigte und ab und an das Haus hütete? 3000 Euro, die über kein Konto liefen und wohl regelmäßig in dieser Form ausgezahlt wurden? Wofür?
Chiara schob den Umschlag zurück an seinen Platz, verschloss die Schublade und platzierte den Schlüssel wieder in seinem Versteck. Dann schlich sie, nicht nur vor Kälte schaudernd, zurück in ihr Zimmer. Sie dachte an die Empfehlung aus dem Gutachten. Für Maurice sollte eine neue Bezugsperson eingestellt werden. Es war damals wie heute sicher nicht leicht, eine erfahrene Kinderbetreuung für einen schwierigen, kleinen Jungen zu finden, die als Mutterersatz rund um die Uhr präsent sein konnte. Böse Zungen könnten behaupten, dass Gero dieses Problem damals geradezu genial gelöst hatte. Er heiratete einfach eine, die durch das Vorhandensein ihres eigenen Kindes eindeutig bewies, dass sie gut mit Kindern konnte. Dazu war sie noch eine hübsche Italienerin mit Temperament und dem Herz auf dem rechten Fleck. Aber sie war auch eine, die nicht aus der Gegend stammte, und weder Menschen noch Gerüchte vor Ort kannte. Und sie war eine, die durch das anfängliche Sprachproblem nicht in der Lage war, Nachforschungen anzustellen. Und nach ein paar Jahren war alles vergessen. Wer weiß, wo diese Friederike von Bentheim abgeblieben ist. Am Ende liegt sie irgendwo vergraben im Park? Und Köhler ist Mitwisser und wird für sein Schweigen bezahlt. Chiara schauderte. Ging jetzt die Fantasie mit ihr durch?
Sie ließ sich in ihr Bett sinken, zog die Decke bis zum Kinn und dachte an Franca. Eigentlich kannte sie ihre Mutter nur gut gelaunt und unternehmungslustig. Aber wenn sie richtig nachdachte, konnte sie sich sehr wohl an stille Momente erinnern, in denen Franca traurig und nachdenklich gewirkt hatte. Sie erinnerte sich, dass sie Franca und deren Schwester Giuseppina vor Jahren einmal im Garten in Monza belauscht hatte. »Unsere Mama hatte recht wie immer«, raunte Franca damals ihrer Schwester zu. »Es war zu schnell. Aber er hat mich so gedrängt, er war aufmerksam zu mir wie sonst noch nie einer. Oft frage ich mich inzwischen, was ihm wichtiger war, die Frau oder die Kinderfrau?«
Damals hatte Chiara das nicht verstanden, jetzt ahnte sie, worum es in dem Gespräch zwischen den Schwestern gegangen war. Also nicht die »große Liebe«, sondern die »große Berechnung«, dachte Chiara. Berechnung. Das sah Gero ähnlich. Arme Franca, wie kommst du eigentlich damit zurecht? Machst du das Beste daraus? Schade, dass wir uns nicht gut genug verstehen, um darüber zu reden. Du wärst viel zu stolz, um zuzugeben, dass du auf ihn reingefallen bist. Ein zweites Mal reingefallen in deinem Leben. Erst auf den schönen Francesco mit den feurigen Augen und dem heißen Herzen, der aber sonst nichts auf die Reihe gekriegt hat, und dann auf den weltmännischen Gero, der dich in sein Traumschloss entführt hat, aber an seiner Seite gar keine Königin, sondern ein lebenslanges Au-Pair gebraucht hat.
Irgendwann musste Chiara trotz der schwermütigen Gedanken eingeschlafen sein. Ihr Handyton weckte sie. Das Tageslicht schien bereits milchig durch die Vorhänge. Schlaftrunken tastete sie nach dem Gerät. Max’ Stimme war zu hören. Max! Chiara fühlte, wie eine angenehme Wärme sie durchströmte.
»Er wird es schaffen. Sie werden ihn heute noch zur Beobachtung dabehalten, aber gegen Abend können wir ihn abholen. Ist das nicht wunderbar?«
Chiara brauchte einen Moment, bis sie verstand, wovon Max redete. »Oh ja, das ist wunderbar«,
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