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Dunkler Zwilling

Dunkler Zwilling

Titel: Dunkler Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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herausfinden. Außerdem bringt es ja auch nicht wirklich was. Lass die Toten ruhn!«
    Max zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht versteinerte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Chiara schlang die Arme um ihn.
    Chiara war auf Strümpfen über den Flur geschlichen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass im Hause der Bentheims alles ruhig war. Sie wusste, dass Franca Michelle gerade zum Ballettunterricht in die Stadt brachte. Ob Gero sich in seinem Arbeitszimmer aufhielt oder noch gar nicht zurück war, wusste sie nicht.
    Leise schloss sie die Tür zu Maurice’ ehemaligem Zimmer hinter sich. Sie wagte es nicht, das Licht anzuschalten. Durch das Fenster fiel das spärliche Dämmerlicht des späten Winternachmittags. Nachdem sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, stellte sie sich vor das Bücherregal und las jeden einzelnen Buchrücken. Meist waren sie bunt bedruckt und mit allerlei Designschriften versehen. Hoch über ihrem Kopf auf dem letzten Regalbrett wurde sie fündig. Die Bücher passten gar nicht zu den übrigen Kinderbüchern. Es waren sechs gleich aussehende Bände mit dunkelbraunem Cover. Auf einem kleinen Schild erkannte sie in Druckschrift den Namen »Busch«. Mehr konnte sie aus der Entfernung nicht entziffern, weil die Schrift zu klein war. Sie kletterte auf einen Hocker und zog den ersten Band heraus. Jetzt konnte sie die komplette Aufschrift lesen. Wilhelm Busch, Gesamtwerk in sechs Bänden. Sie hielt Band 1 in der Hand.
    Chiara sprang vom Hocker und stellte sich in die Nähe des Fensters. Das Innere des Buchdeckels bot bereits eine Überraschung. Auf das dunkelbraune Papier war mit verschnörkelter Goldschrift geschrieben: Für Friederike von Bentheim mit liebem Dank, A. M., im Mai 1996.
    Damit war klar, dass dieses Buch gar nicht Maurice, sondern seiner Mutter gehört hatte. Chiara schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Noch war es möglich, dieses Buch einfach wieder zurückzustellen und es für die nächsten Jahre dort zu lassen, so wie es die letzten Jahre unberührt im Regal gestanden hatte.
    Für Max ist eigentlich genug geklärt, dachte sie. Und für mich? Ihr Herz klopfte im Hals. Die Wiesner hatte davor gewarnt, nach Max’ Eltern zu suchen. Mördereltern. Waren das Gero und Friederike oder nur einer von beiden?
    Stell es einfach zurück, befahl sie sich selbst. Doch ihre Finger blätterten bereits weiter. Auf der fotokopierten Seite hatte oben rechts eine kleine Seitenzahl gestanden. Die hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. 197. Ihre Finger blätterten langsamer. 192. Hänsel und Gretel in Bildern von Wilhelm Busch . Chiaras Blick blieb an einer Zeichnung hängen, die ein Mädchen mit Zöpfen und einen etwa gleichaltrigen Jungen darstellte. Beide Kinder hielten riesengroße Brezeln in die Höhe. Mit der freien Hand und mit den Füßen beförderten sie gerade eine große vergitterte Holzkiste in einen Teich. In der Kiste saß ein Mann. Die Kinder guckten vergnügt. Brezel mampfend liefen sie nach Hause. Chiara schüttelte den Kopf. So was als Kinderbuch! Das ginge heutzutage ja gar nicht! Aber vielleicht war das auch damals gar nicht als Kinderbuch gedacht? Und die zwei da, das sind Max und ich. Wen werfen wir gerade in den Sumpf? Chiara blätterte weiter und ihre Augen fielen auf den Titel der nächsten Geschichte: Max und Moritz – eine Bubengeschichte in sieben Streichen – 1865.
    Chiara blätterte um. Erster Streich. Max und Moritz dachten nun: Was ist hier jetzt wohl zu tun?
    Moment mal, das ist doch mitten in der Geschichte! Seite 199. Chiara blätterte zurück. Jetzt schlug ihr Herz endgültig wie ein Schlagzeugsolo. Ihr wurde schwindelig. Für einen Augenblick verschwammen die Bilder vor ihren Augen. Dann sah sie wieder klarer. Eindeutig! Das Blatt mit Seite 197 und 198 war herausgerissen worden. Würde man die Zähnchen der Risskante mit der Fotokopie, besser noch mit dem Original vergleichen, würde man wahrscheinlich unschwer beweisen können, dass das Blatt in Max’ Besitz aus diesem Buch stammte. Aus einem Buch, das zum Hausstand der Bentheims gehörte! Ein Buch, das Friederike von Bentheim einmal in den Händen gehalten hatte – wie der Widmung zu entnehmen war. Das war ein Beweis! Was immer geschehen war – es hatte hier stattgefunden. Hier in diesem Haus! Hier in diesem Zimmer!
    Chiara ließ sich auf das unbezogene Bett sinken und starrte aus dem Fenster. Der Himmel war eine einzige große hellgraue Wolke, die sich wie ein düsteres

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