Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
lange stand er da in der Tür und war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht wahrnahm, dass ihr Blick dem seinen begegnete, den er erwiderte. Er betrachtete sie mit seltsam in sich gekehrtem Blick, und einen Moment lang beschlich sie das unangenehme Gefühl, ein studiertes Objekt zu sein. Doch als er erkannte, dass sie ihn genauso musterte wie er sie, senkten sich seine Lider erschrocken und ließen die Lichter seiner Augen hinter dunklen Wimpern verschwinden.
Um seine vollen Lippen zuckte ein nervöses Lächeln, und als sie ihn ansprach, unwirscher als beabsichtigt, sah er beinahe wie ein kleiner, verschreckter Junge aus, der gleich in Tränen ausbrach.
«Den ... Denis», brachte er schüchtern hervor und trat einen Schritt auf sie zu, «ich bin Jarouts Halbbruder. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.»
Doch so scheu er auch auf den ersten Blick wirkte, so überraschte er sie umso mehr, als er sie bat, sie malen zu dürfen. Um Gottes willen! Wie verzweifelt musste jemand sein, um ausgerechnet sie das zu fragen. Oder konnte es sein, dass dieses Kleid Wunder bewirkte?
Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Aber warum nicht? Jarout war über alle Berge und kam vermutlich in dieser Nacht ohnehin nicht mehr zurück. Lucas war, wer weiß wo, und die Zeit des Wartens ließ sich sicherlich besser ertragen, wenn es jemanden gab, mit dem sie reden konnte. Über dieses und jenes und vor allem über die Familie. Sie war schließlich immer noch darauf aus, so viele Informationen wie möglich zu bekommen, bevor sie Lucas gegenübertrat.
Also sagte sie ja und fand heraus, wie man Denis glücklich machen konnte, sodass er richtiggehend strahlte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke wieder, und wie aus einem Instinkt heraus »griff« sie zu. Die übliche Schwelle war nicht vorhanden und so leicht zu überwinden, als betrete sie ein Zimmer durch eine weit geöffnete Tür. Mehr noch. Einen Moment lang spürte sie, wie sie geradezu hineingezogen wurde. Erschrocken fuhr sie zurück. Auf einen Geist, der nicht die geringste Gegenwehr übte, war sie noch nie gestoßen. Sein bereitwilliges Nachgeben war etwas, das sie nicht kannte.
«Du hast mich berührt», flüsterte er, und so etwas wie Ehrfurcht lag in seiner Stimme.
«Es tut mir leid. Das wollte ich eigentlich gar nicht.»
«Nein, es ist gut. Du hast mich berührt, und deine Gedanken waren in meinem Kopf. Ich spürte das ganz deutlich.» Er schien begeistert zu sein.
«Ich, äh, es passiert mir manchmal, ohne dass ich es darauf anlege.»
«Das ist schon in Ordnung. Lucas, mein Stiefvater, das heißt, der Gefährte meine Mutter, macht das auch manchmal. Aber nur, wenn er in Sorge um mich ist, oder etwas sagen möchte, das nur für mich allein gedacht ist.»
«Lucas, hm? Das ist doch Jarouts Vater, oder?», fragte sie Unwissenheit heuchelnd. Jetzt verstand sie, warum er ihr so unverhohlen Einlass in seine Gedanken gewährte. Das war wie ein Reflex. Klopfte jemand an die Tür, öffnete er sie, ohne zu zögern. Da bringt Lucas ihm ja ein paar hübsche Tricks bei, dachte sie grimmig. Er schwächt seinen ohnehin schon von Natur aus nicht unbedingt mit einem starken Selbstvertrauen gesegneten Schützling noch zusätzlich, indem er ihn lehrt, jeden der wollte, seine Gedanken lesen zu lassen.
«Jaa», antwortete Denis gedehnt, als sei ihm diese Frage unangenehm, «er, ich meine, wir gehören alle zu ihm. Er ist das Haupt dieser Familie.»
«Und wie ist er so? Ist er nett, oder ...?»
«Oh, er ist großartig. Er ist der Einzige hier, der mich behandelt, als wäre ich völlig normal. Ich meine, natürlich abgesehen von meiner Mutter, die liebt mich auch. Aber sonst ... zum Beispiel Jarout, der kann mich meistens nicht ausstehen. Und Beryl und Eliane auch nicht. Nur, weil ich nicht wie sie bin.»
«Du bist nicht wie sie? Was meinst du damit?»
Er wollte schon antworten, doch dann zögerte er. Ein hässliches Misstrauen verdunkelte jäh seine unschuldigen Züge.
«Keine Sorge, Denis! Du kannst mir vertrauen. Ich weiß, was ihr alle hier gemein habt.»
«Aha! Ja, dann, also du weißt, was und wer wir sind? Ich bin aber kein richtiger Hirudo, verstehst du?»
Sie schüttelte den Kopf. Kein richtiger Hirudo? Konnte es sein, dass er ihr ähnlich war? War er womöglich auch ein Mensch? Aber nein! Jarout sagte, Hirudo seien unfruchtbar und Blanche konnte ihn demnach nur während der Zeit geboren haben, als sie selber noch menschlich war. Jesus, Denis musste
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