Dunkles Erwachen
der die einzelnen Steine ineinandergefügt worden waren. Überall waren die Blöcke durchzogen von tiefen Rissen und Sprüngen. Die wenigen Verzierungen, die reliefartig in die Wände eingelassen worden waren, waren oftmals zertrümmert und nur noch bruchstückhaft vorhanden.
Keiner von ihnen konnte sagen, wie viel Zeit vergangen war, als sie endlich eine gähnende Öffnung erreichten, die eine Tür in der Mauer bildete. Einer der Hünen blieb an ihrer Seite stehen und winkte die Gruppe mit dem Speer zu sich her.
»Nach den Tagen des Rituals wird Shion entscheiden, was euch erwartet -«, eröffnete er den Menschen. Er bedeutete ihnen, in den Raum hinter der Öffnung zu gehen. »- ein langsamer Tod oder ein schneller.«
Alice betrachtete das Gesicht des Farbigen eindringlich. Bei den Worten war in seiner Miene keine Regung zu erkennen. Sie hatte zumindest einen Hauch von Spott erwartet, doch die Worte kamen ruhig und gelassen über die Lippen des Hünen.
Nachdem sich die Gruppe in dem quaderförmigen leeren Raum versammelt hatte, versperrte einer der Wächter ihnen den Weg und hieb seinen Speer drohend neben sich auf den Boden.
»Denkt über eure Verfehlung nach und bereut die Sünde. Wir haben es den Stämmen in all den Jahrhunderten so häufig gesagt. Wir dachten, ihr hättet es gelernt. Es scheint, als sei die Welt inzwischen von Völkern bewohnt, die voller Ignoranz durch die Geschichte stapfen!«
Der Wächter schüttelte leicht den Kopf. Das war die erste Regung, die die Gruppe an einem der Hünen wahrnahm. Er drehte sich wortlos um und verließ den Raum. Sobald er die Schwelle überschritten hatte, donnerte übergangslos eine schwere Steinplatte aus einer Versenkung im oberen Türrahmen und versperrte den Ausgang.
Auch hier leuchteten die fensterlosen Wände in einem dämmrigen Licht. Es warf die Konturen der Menschen in langen Schatten gegen den Stein und versank schon nach wenigen Metern in einem diffusen Nebel.
Die Frauen blickten auf die massive Platte, die die Tür zu ihrem Gefängnis bildete. Janet Verhoovens Hände glitten über die kalte Oberfläche. Der Stein schloss nahezu fugenlos mit der Mauer ab und wirkte, als habe er schon immer an dieser Stelle gestanden. Ohne zu wissen, warum sie es tat, drückte sie die Platte und versuchte, sie zu verschieben. Kopfschüttelnd hielt sie inne und schalt sich selbst. Sie warf Alice Struuten einen Blick voller Sarkasmus zu, doch die Fotografin starrte den Stein wie hypnotisiert an.
»Was machen wir jetzt nur?«, richtete diese ihre Frage hilflos an ihre Teamleiterin. Janet war sich nicht sicher, wie lange die jüngere Frau noch durchhalten würde. Sie musterte sie besorgt, ohne jedoch zu einer Antwort zu kommen. Ihr Blick ging zu Talon, der den verletzten Mauris vorsichtig an einer Wand niedergelassen hatte.
»Die Frage ist doch eher, was er jetzt macht?« Frustriert stemmte sie die Fäuste in die Hüfte. »Er hat uns schließlich hierher gebracht!«
Ihre Augen blitzten wütend auf. Doch Talon erwiderte ihren Blick nur kühl.
»Lassen … Sie«, warf Mauris schwach ein. »Mein Fehler. Hätte …« Er hielt inne. Sein Oberkörper fuhr hoch. Rasselnd löste sich ein lang gezogener Schmerzenslaut aus seiner Kehle. »…hätte nicht schießen dürfen«, fuhr er mühsam fort.
Alice Struuten ging neben ihm in die Knie und legte ihre Hand auf die seine. Sie drückte leicht seine Finger, die widerstandslos nachgaben. Erschrocken sah sie ihn an und versuchte dann, ihn aufzumuntern.
»Ruhig, Eugène. Du musst dich ausruhen, und dann werden wir -«
»Verrückt, Alice …« Er lächelte sie müde an. »Du … bist …«
Sein Kopf kippte nach vorne. Alice beugte sich beunruhigt vor. »Eugène?«
Der leblose Körper sackte in sich zusammen.
»Oh Gott«, flüsterte Alice tonlos und presste die Faust gegen die Lippen. Voller Mühe versuchte sie, die Fassung zu wahren. Hinter ihr entfuhr Janet Verhooven ein gefluchtes ›Scheiße‹, mit dem sie sich abwandte und in den Schatten des Raumes zurückzog.
Talon schloss die Augen des toten Mannes und richtete sich auf. Gefühle brodelten unterdrückt in seinem Inneren. Seit Tagen war er seines freien Willens beraubt, folgte einem Ruf, der etwas in ihm wachrief, was er mühsam zu unterdrücken versuchte. Ein Wesen, das ihn gefangen hielt, das ihn nicht einmal zur Kenntnis nahm und das nun einen Mann hatte töten lassen, für den er die Verantwortung übernommen hatte.
Voller Wut streckte er die Hände in die Höhe.
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