Dunkles Erwachen
Aus seinem Rachen löste sich ein grollender Laut. Er riss den Kopf in die Höhe.
»Shiooon!«, hallte es dröhnend durch den leeren Raum.
Überrascht hielt der Hüne in seinem Gebet inne.
Immer noch erschütterten kleine Nachbeben die Vororte von Kairo und brachten viele der beschädigten Häuser, die die ersten Wellen überstanden hatten, zum Einsturz. Der Mann nahm das Chaos um sich herum befriedigt zur Kenntnis. Es war sein Werk. Das Konzert aus verzweifelten Schreien, dem Dröhnen weiterer Bauten, die in sich zusammenfielen, und dem nicht enden wollenden Heulen der Sirenen umschmeichelten seine gepeinigte Seele.
Doch gerade eben war ein anderer Laut zu ihm durchgedrungen. Eine Stimme, weit entfernt, und dennoch deutlich zu verstehen. Sie trug einen Namen mit sich, den er selbst nur voller Abscheu aussprach.
»Wer -?«, fragte er in die Leere des frühen Morgens. Sein schweißbedeckter und von Staub verschmierter Körper glänzte dunkel im Licht der wenigen noch funktionierenden Straßenlaternen.
Das Echo der Stimme hallte durch seine Gedanken.
»Du … ich kann dich hören!«, konzentrierte er sich auf den verwehenden Klang. »Bist du tatsächlich in Shions Nähe?«
Sekunden des Schweigens folgten.
Talons Ruf war in der Kammer verklungen. Er sah zu den beiden Frauen hinüber, die ihn vorsichtig beobachteten. Ohne etwas zu sagen, wandte er sich ab. Ein Wispern stahl sich in seine Gedanken. Es wurde schnell lauter und schwoll zu einer durchdringenden Stimme an.
Bist du tatsächlich in Shions Nähe?
Talon verharrte in der Bewegung. Zuerst dachte er, seine Sinne spielten ihm einen Streich. Aber die Stimme hallte in seinem Kopf wider, als sei sie von jemandem gesprochen worden, der direkt neben ihm stand.
»Ja«, antwortete er leise und zurückhaltend. »Er hat uns gefangen genommen.« Er ließ die Frauen stehen und verschwand in der Tiefe der Kammer. »Aber, wer bist du?«, ergänzte er.
Ich bin der, der dir helfen kann.
Der Mann aus der Savanne konnte das breite Grinsen nicht sehen, das sich in diesem Augenblick Tausende von Kilometern von ihm entfernt über das Gesicht des kahlköpfigen Hünen stahl. Der Farbige reckte seinen massigen Körper in die Höhe. Trotz des kühlen Morgens war er mit nicht mehr als einer zerschlissenen blauen Jeans bekleidet. Der Atem löste sich sichtbar von seinen Lippen, als er das Gespräch fortsetzte.
Ich zeige dir den Weg , hallte es in Talons Sinnen. Ich verlange nur etwas Entgegenkommen.
Lange schlummernde Kräfte durchströmten den Hünen, der mit einer Handbewegung Tonnen von Bauschutt und Müll wegwischte und so einen freien Kreis um sich schuf, der gut fünfzig Schritt durchmaß. Die Trümmer stürzten um ihn herum zu Boden oder schlugen in die beschädigten Häuser ein. Lichtreflexe zuckten um den dunklen Körper.
Shion ist mein Feind. Länger, als die Erinnerung der Menschen reicht!, fuhren die Gedanken des Mannes fort. Ich bin der, dem der Tempel einst gehörte.
Talons Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Grinsen.
»Große Worte«, flüsterte er leise. »Doch wie willst du mir helfen, wenn du nicht einmal mehr Herr in deinem eigenen Haus bist?«
Überlasse deinen Körper mir für diesen Augenblick und glaube mir … dann , erklangen die Worte ruhig und voller Stärke in seinem Inneren, finde Shion für mich – und zermalme ihn!
Die Worte zischten schneidend durch Talons Kopf. Stumm richtete er den Blick auf die Tür. Er hatte das Gefühl, als würden Augen andere als die seinen das Bild vor ihm wahrnehmen. Auch wenn er seine Schritte selbst setzte, so fühlte er doch, wie ein anderer sie führte und seine Muskeln beherrschte. Talon presste die Lippen aufeinander und unterdrückte die Unruhe in sich. Tief in ihm begehrte alles dagegen auf, erneut von einer anderen Macht kontrolliert zu werden.
Alice Struuten näherte sich Janet zögernd. Die letzten Minuten hatten sie sich noch tiefer in ihre Ecke zurückgezogen.
»Verdammt«, wisperte sie der anderen Frau zu. »Seit Minuten steht er regungslos da und murmelt irgendwelche zusammenhangslosen Sätze vor sich hin!«
Janet sah sie mit ausdruckslosen Augen an. Sie wollte nur noch, dass all das hier zu einem Ende kam. Keine Faser in ihr war mehr bereit, sich auf das einzulassen, was mit jedem neuen Augenblick auf sie einprasselte. Ihr Unbehagen Talon gegenüber wuchs. So sehr er sie faszinierte und als Mann erregte, es war ihr nicht möglich, ihn zu verstehen. Er wirkte so fremdartig, so völlig
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