Dunkles Erwachen
anders als alle Menschen, die ihr in ihrem Leben begegnet waren. Und er beunruhigte sie.
Sie wusste nur nicht, was stärker in ihr wütete. Die Angst vor diesem ›Wilden‹ oder die Furcht, Amos Vanderbuildt gegenübertreten zu müssen.
Talon erreichte den Steinblock und lauschte den Worten in sich.
Lege deine Hände gegen den Stein und erfülle ihn mit deiner Wut!
Ohne zu zögern, presste er seine Handflächen auf die kalte Oberfläche. Er fühlte, wie Kräfte durch seine Fasern strömten, die er nie zuvor erlebt hatte. Sie schienen wie lebendige Energie durch seinen Körper zu fließen und sich in seinen Fingerspitzen zu bündeln. Tief in sich hörte er ein weit entferntes Lachen.
Die steinerne Platte begann zu vibrieren. Ganz leicht erst, doch dann rieselten einzelne Brocken herab. Das beständige Aufschlagen auf dem Boden wurde intensiver und hallte in der Kammer wider. Und dann, ohne einen Übergang, zerfiel der Stein in Myriaden kleiner Trümmer, die staubfein zu Boden rieselten.
»Shions Leib!«, hörte Talon eine entsetzte Stimme hinter der Mauer. Durch den aufgewirbelten Staub, der sich nur langsam legte, konnte er den Umriss eines Wächters erkennen.
Ohne einen Augenblick zu zögern, riss der Hüne seinen langen Speer hoch und richtete ihn stoßbereit auf Talon. Seine Arme zuckten vor. Doch er hatte nicht mit der katzengleichen Geschwindigkeit des Weißen rechnen können. Talon wich dem Stoß aus und umklammerte die Waffe mit beiden Händen.
Trotz seiner Kraft hatte der Hüne dem Angriff nichts entgegenzusetzen. Er stolperte nach vorne, als ihm die Lanze entrissen wurde. Der wuchtige Stoß mit dem Ende des Speers ließ ihn zu Boden taumeln.
Noch bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, rammte Talon dem Hünen die Lanze in die Brust. Der lang gezogene Todesschrei verhallte ungehört in den Tiefen der Hallen.
Als Talon keine Bewegung in seinem Gegner mehr spürte, zog er den Speer aus dem toten Körper und sah zu den beiden Frauen hinüber, die die Szene entsetzt mit angesehen hatten. Seine Brust hob und senkte sich rasch. Der Atem ging fliegend über seine Lippen.
»Kommt«, rief er ihnen zu und hastete los. Er wartete nicht ab, ob sie ihm tatsächlich folgten. Den langen Speer hielt er fest umklammert in seiner rechten Hand. Er fühlte nun, dass er wieder Herr über seinen Körper war. Die fremde Stimme war verklungen.
»Gott, was geschieht hier nur?«, kam es tonlos über Alices Lippen, während sie sich neben Janet an dem toten Krieger vorbeizwängte. Sie wünschte sich, endlich aus diesem Albtraum aufzuwachen.
Das Ritual forderte, dass eine von beiden Seiten die andere als Sieger anerkannte. Shion erwartete jeden neuen Herausforderer, der den Sieg für sich beanspruchen wollte – und damit mehr erhielt, als er es sich hätte vorstellen können.
T'chre war jung, ungestüm, ohne ein eigenes Rudel. Auch er kannte den schwarzen Löwen nur aus der Erinnerung der Alten. Nach seinem Verständnis war Shion etwas, was es nicht geben durfte. Er wusste nicht um die Macht, die Kraft, die er erlangen konnte. Er wollte sich nur den Respekt der anderen erkämpfen. Und zumindest ein oder zwei Weibchen auf sich aufmerksam machen.
Der Kampf dauerte erst wenige Minuten, doch schon jetzt spürte T'chre, dass er seinem übermächtigen Gegner nicht gewachsen war. Die Verzweiflung schenkte ihm die nötige Kraft, um sich gegen Shion behaupten zu können. Für ihn war es mehr als ein Ritual. Es ging um sein Leben, all das, was er erreichen wollte.
Doch der König, der Shion war, spielte nur mit seinem Gegner. Fast mühelos wehrte er die Attacken des jungen Löwen ab. Seine Pranken gruben sich tief in das ockerfarbene Fell und zogen lange, blutrote Spuren.
Und dann fiel T'chre, gezeichnet von Wunden, die ihn nie wieder aufstehen lassen würden.
Shions Triumph hallte durch die Emporen wie ein mächtiger Windstoß, der über die Savanne zog. Den Kopf weit zurückgeworfen, stand er am Rande der Plattform. Seine glutroten Augen glitten über die Reihen der Leiber, die die Ränge füllten.
Und ein neuer Herausforderer antwortete ihm. Ein tiefes Grollen hallte durch die Arena.
N'gra, alter Führer eines stolzen Rudels tief im Osten, war nicht bereit, sich dem schemenhaften Nebel eines formlosen Schattens zu beugen. Seine lange Mähne war durchsetzt mit schwarzen Strähnen. Tiefe Kerben in der Haut des Löwen zeugten von den zahlreichen Kämpfen, die er bestanden hatte.
Mit kraftvollen Schritten jagte er
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