Dunkles Feuer
sich. Es war wunderschön.
Das Kleid war relativ gut erhalten, obwohl es etwas verstaubt und an einigen Stellen von Motten zerfressen war. Doch das spielte für Julie im Augenblick keine Rolle.
Sie stellte sich vor, wie eine elegante, junge Dame, die wohl kaum älter als sie selbst gewesen sein mochte, in diesem Kleid in einem kleinen Salon Besucher empfing und mit einer feinen, aber bestimmenden Geste Bedienstete und Verehrer kommandierte. Das kleine Mädchen in Julie kam nun an die Oberfläche und drängte, sich diesen alten Traum zu erfüllen. Gedankenverloren ging Julie ans Fenster, das Kleid immer noch an ihre Brust gedrückt, und stellte sich vor, wie diese andere junge Frau an eben diesem Fenster in einer ähnlichen Pose gestanden haben und das Treiben im Hof beobachtet haben mochte. Was für Gedanken gingen ihr wohl damals durch den Kopf, welche Gefühle beherrschten ihr Gemüt? Schaute sie gelangweilt oder sehnsüchtig in die Ferne, fühlte sie sich eingesperrt in diesem kleinen Zimmer oder war ihr Geist frei genug, um die räumliche Begrenzung zu überwinden? Hatte sie ihr Glück schon gefunden oder versuchte sie heimlich und aus der Ferne einen Blick auf einen jungen Mann zu erhaschen, der nichts von ihrer Zuneigung ahnte oder den gesellschaftliche Konventionen von ihr trennten?
Julie wusste es nicht, doch fühlte sie sich sonderbarerweise mit dieser jungen Frau verbunden, von der sie nicht einmal wusste, ob sie je existiert hatte. Vielleicht war es so, weil sie die gleichen Träume und Hoffnungen hatte, die auch die Andere bewegt haben könnten und die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hatten.
Frederik war oft in diesem Zimmer, und er konnte es nie ganz aus seinen Gedanken vertreiben. Es war eine Art Selbstbestrafung, die er sich auferlegte, wenn er mit fest zusammengepressten Lippen am großen Fenster stand und sich an das damalige Geschehen erinnerte. Oh, welch Ironie des Schicksals! Dieser Raum hätte Zeuge seines größten und endgültigen Triumphs über die Menschen sein sollen, stattdessen hatte er hier seine niederschmetterndste Niederlage erlebt.
Er kam in Annes Zimmer stets mit gemischten Gefühlen, es war für ihn ein teuer erkauftes Mahnmal seiner Überheblichkeit. Es diente jedoch nicht nur dazu, ihn für sein früheres Versagen zu bestrafen, sondern spornte ihn auch an, diesen Fehler nie zu vergessen und ihn niemals zu wiederholen.
Als ihn diesmal dieser unmögliche Peter, der immer weiter in sein Privatreich eindrang, in seinem Lieblingskabinett, wohin er sich immer zum ungestörten Nachdenken zurückzog, aufgescheucht hatte, beschloss er, Zuflucht in Annes Zimmer zu suchen, einem der wenigen Räume, die noch unversehrt geblieben waren.
Als Frederik den Raum betrat, sah er etwas, das ihn veranlasste, an seinem Verstand zu zweifeln. Wie war das bloß möglich? Hatte sich die Zeit angesichts seiner Verzweiflung zurückgedreht, um ihm noch eine zweite Chance zu geben? Die Chance, den fatalen Fehler nicht zu begehen? Denn da stand Anne, genauso, wie er sie damals an dem schicksalhaften Morgen in ihrem Zimmer angetroffen hatte. Alles war genau wie damals: die Haltung, das Kleid, der verträumte Blick in die Ferne.
Doch dann drehte das Geschöpf sich um, und Frederik erlebte einen zweiten Schock. Während sein Verstand versuchte, ihm zu erklären, dass Julie zufällig das Kleid gefunden und aus einer Laune heraus angezogen hatte, rasten alles andere als rationale Gedanken durch seinen Kopf.
War es ein Zeichen des Schicksals, war es Vorbestimmung?
Was wollte das Schicksal ihm zeigen? War es eine Warnung? Sollte Julie zu einer zweiten Anne werden? Sollte er wieder eine Niederlage erleiden? Oder hieß es vielleicht, dass Julie tatsächlich seine zweite Chance war? Dass sie zu Ende bringen würde, was Anne nicht geschafft hatte? Er war zwischen Hoffnung und Angst hin und her gerissen, denn er konnte zwar die gesamte Menschheit herausfordern, doch das Schicksal vermochte nicht einmal er aufzuhalten.
Julie drehte sich um und starrte ihn direkt an.
»Da seid Ihr ja endlich, ich habe lange genug auf Euch gewartet.« Sie schenkte ihm ein besonderes, bezauberndes Lächeln.
Frederik erstarrte. Wie war das nur möglich? Sein Verstand, seine Erfahrung, sein Wissen sagten ihm, dass sie unmöglich von ihm wissen und ihn erst recht nicht sehen konnte. Aber offensichtlich konnte sie es doch. Julie machte einen zögernden Schritt auf ihn zu.
»Seid doch nicht so schüchtern, sagt doch etwas«, fuhr sie
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