Dunkles Licht
Flucht? Seine Beine zitterten bereits.
»Wie weit muss ich laufen?«
»Hinunter zum Haupttor und um eine Ecke. Bringst du das fertig?«
»Werdet Ihr schon sehen.« Er sah die Erleichterung, die das Gesicht der älteren Frau überflutete. Er war versucht hinzuzufügen:
Aber sie sollen mich nicht lebendig in die Hand bekommen.
Er würde lieber sterben, als an den Haken zurückzukehren.
»Möchten dich nicht raustragen müssen, Junge.« Sie hatte vergessen, dass er jetzt Bruder Rollo war, aber es war besser, dass sie vergaß, ihn mit seinem Titel anzusprechen, wenn sie unter sich waren, als dass sie ihn versehentlich in der Öffentlichkeit verwendete. »Bist du bereit?«
»Nein«, erwiderte er. »Wartet einen Augenblick hier.« Er bemühte sich, die schwere Tür mit einem Ellbogen aufzustoßen, hatte jedoch nicht genügend Kraft, nicht mal in den Schultern. Edith tat es für ihn.
Sich seines heftig klopfenden Herzens sehr wohl bewusst, spähte er hinaus und entdeckte nur Dunkelheit und einen leeren Korridor. Da er sein Schwert vergessen hatte, blieb er prompt in der Öffnung hängen und schlug mit der linken Hand gegen die Mauer. Er hätte fast aufgeschrien. Ein Schrei oder zwei mochten in Schweinetrog keine große Aufmerksamkeit erregen, aber besser wäre es, das nicht auszuprobieren. Er ging hinaus und erforschte den Verräterblock, einen Korridor mit je sechs Zellen zu beiden Seiten. Er hatte stets im Licht und unter ständiger Bewachung gestanden, konnte jedoch keine andere Zelle erkennen, die sich solcher Aufmerksamkeit erfreut hätte. Auf Zehenspitzen stakste er zum anderen Ende und wieder zurück, entdeckte nicht die Spur von Licht und fand niemanden – nicht an den Gucklöchern des Korridors, auch nicht in den Seitengängen zwischen jeweils zwei Zellen, die eine Überwachung der Insassen aus anderen Richtungen erlaubten. Kein Lebenszeichen. Nell und Edith hatten ihm das gesagt, aber jetzt wusste er, dass er gehen konnte, ohne allzu sehr ins Stolpern zu geraten. Er kehrte zu den Frauen zurück.
»Bereit«, erklärte er.
»Los!«, sagte Nell. Die Fledermaus spreizte die Flügel und verschwand oben zwischen den Gitterstäben.
»Dein Vertrauter vermutlich?«, fragte er.
»Nicht meiner, nein.«
Er ging voraus, um das Schwert zu zeigen und weil jede andere Anordnung in Albi falsch erschienen wäre. In Xennia gingen Frauen normalerweise voran. Edith folgte mit Nell hinter ihm. Er nahm die steile Treppe sehr langsam, denn er war nicht sicher auf den Beinen und außerstande, den Handlauf an der Mauer zu packen. Die bloße Bewegung erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit, und er würde noch wesentlich mehr benötigen, um die Wächter abzulenken. Wenn er stolperte, würde er die Treppe hinunterrollen, und das wäre das Ende vom Lied.
Durch das Gitter drang Licht. Und Stimmengewirr! Nach der Süße der Hoffnung war die Verzweiflung bitterer als Alaun. Rollo würde an den Haken zurückkehren, und er könnte nicht mal das Schwert ziehen und sich selbst töten.
»Lass mich ran«, flüsterte ihm Nell sehr leise ins Ohr. »Ich kann inspirieren.«
Deswegen hatte Rollo also vor ein paar Minuten an Sex denken müssen – Nell hatte versucht, ihn ein wenig aufzumuntern. Sie schlüpfte an ihm vorbei und probierte sehr sanft, die massive Bohlentür zu öffnen, aber sie rührte sich nicht.
Sie legte das Gesicht dicht ans Gitter und pfiff leise. Pause. Sie pfiff erneut. Das Gesicht eines Mannes erschien auf der anderen Seite.
»Was …? Heilige Scheiße! He, Bill, komm her und sieh dir das an!«
Nell flüsterte ihm etwas zu. Rollo verstand die Worte nicht, und dennoch verspürte selbst er einen Nervenkitzel, also musste sie eine ziemlich große Macht besitzen. Ein zweites Gesicht tauchte neben dem ersten auf, und sie wechselte von Inspiration zu Beherrschung.
»Ihr werdet meinen Befehlen gehorchen. Ihr werdet keinen Alarm schlagen. Öffnet diese Tür!«
Die Gesichter verschwanden. Es folgte ein dumpfes Geräusch, aber keinerlei Ausruf. Es mussten bloß zwei sein.
»Das war großartig«, flüsterte Rollo.
»Nicht den Tag vor dem Abend loben.«
Die Tür schwang auf. Lampenschein, der tagsüber kaum zu erkennen wäre, wirkte blendend hell nach der Dunkelheit oben. Die Freiheit rückte eine Handbreit näher.
Draußen standen zwei hagere Bewaffnete. Nicht die Spezialwache für Verräter, bloß die reguläre Gefängnis-Nachtwache. Verwirrt sahen sie Nell an, da sie nicht verstanden, was vor sich ging oder warum
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