Durch den Wind
nichts, wahrscheinlich hatte ein netter Nachbar die Tüten mitgenommen, wahrscheinlich war die ganze Aufregung umsonst. Sie nahm das Oberteil und lief zurück in die Wohnung. Sie schloss dreimal ab, warf das grüne Teil über den Sessel im Flur und ging ins Bett. Doch der Geruch auf Victors Kopfkissen war nun verflogen. Sie drehte das Kopfkissen um, steckte ihre Nase in jede Falte, sogar zwischen den Bezug und die Füllung, aber er warnirgendwo mehr zu finden. Sie versuchte sich auf ihren Atem zu konzentrieren, aber es funktionierte nicht. Niemand nahm einfach Tüten mit zur Altkleidersammlung.
Sie knöpfte das Pyjamaoberteil neu, band sich die roten Haare zusammen, griff nach dem Telefon, das neben ihrem Bett lag, und wählte Victors Nummer. Er nahm ab – mit japanischen Lautsprecheransagen im Hintergrund.
»Victor?«
»Schön, deine Stimme zu hören, ich bin gerade im Hotel angekommen. Die Japaner sind vielleicht ...«
»Victor?«
»Ja?«
»Irgendwie passieren seltsame Dinge«, sagte sie, »jemand hat meine alten Kleider geklaut.«
»Wolltest du sie nicht sowieso loswerden?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: »Nur das grüne Oberteil lag noch im Treppenhaus.«
»Ein grünes Oberteil?« fragte er in einem anderen Ton.
»Du fehlst mir so, jetzt schon«, sagte sie, »es tut mir nicht gut, wenn du nach so einem Frühstück einfach wegfährst.«
»Ich bin bald wieder da«, antwortete er sanft, »und ich habe beim Einchecken gerade etwas Wunderbares entdeckt für dich. Etwas, das man um den Nacken binden kann, das deine Schultern betont«, er machte eine Pause, »ich kann es kaum abwarten, deine Schultern wiederzusehen.«
»Welche Farbe?« fragte sie.
»Das verrate ich nicht«, sagte er.
»Grün?« fragte sie.
Er schwieg.
»Sprechen wir morgen gleich wieder?« fragte sie.
»Morgen, übermorgen, und dann bin ich schon auf dem Weg zu dir. Du fehlst mir auch.«
Als Siri die Wohnungstür aufschloss, hörte sie Felix schon aus dem Wohnzimmer ihren Namen rufen. Sie hörte Eduards Stimme, die ihn ermunterte, ihr entgegenzulaufen, und schon sprang ihr Sohn in ihre Arme. Ein weiches Paket, das an ihr dranhing. Sie spürte seine warme Wange unter ihren Lippen und seinen Atem auf ihrer Haut. Sie küsste ihn auf den Hals, die Haare, die Ohren, und für einen Moment war alles gut. Er drehte ihren Kopf mit seinen Händchen so, dass sie ihn anschaute, und erzählte dann atemlos, was er an diesem Morgen alles schon erlebt hatte: von dem umgekippten Kakao, einem Autorennen und dem auf der Leine trocknenden Känguru. Sie spürte sein Gewicht auf ihren Armen, während sie ihn ins Wohnzimmer trug, und sah Eduard, wie er, seine langen Beine auf dem Boden ausgestreckt, ein kleines Auto in der Hand, zwischen lauter Keksdosen und Milchflaschen einen Parcours aufgebaut hatte. Wie gut er aussah in seinem dicken, leuchtend grünen Pullover, wie sehr ihm eine durchzechte Nacht stand, wie wenig verlebt er dadurch wirkte und wie deutlich ihm die Liebe zu seinem Sohn ins Gesicht geschrieben war.
Noch im Mantel setzte sie sich neben ihn auf den Boden und ließ Felix aus ihrem Arm zurück in sein Spiel.
»Hast du mit Großmutter gesprochen?« fragte Eduard, und als Siri nicht gleich reagierte, fuhr er fort: »Und wie hat Großvater reagiert?«
»Alles in Ordnung. Großmutter war nicht da, aber ich hab sie noch auf der Straße getroffen. Es war alles eine Schnapsidee.Großvater weiß von nichts. Wir haben Tee getrunken und uns angeschwiegen. Du weißt doch, wie er ist.«
Siri lächelte, Eduard lächelte zurück.
Und wenn die Welt so wäre wie jetzt gerade, dann wäre doch auch alles in Ordnung.
Felix hüpfte nun wieder auf ihren Schoß und warf sie dabei beinahe um. Sie lachte, kitzelte ihn an den Rippen.
Eduard beobachtete sie und brachte dabei die Autos sicher durch den Parcours aus Flaschen und Dosen. Er schaute nicht ein einziges Mal nach unten und berührte trotzdem kein Hindernis. Felix strahlte seinen Vater an, und nachdem er das Auto über die Ziellinie gebracht hatte, brach er in Jubel aus. Sie klatschte und legte sich flach auf den Boden.
»Leg dich doch noch mal hin. Du hast doch viel zu wenig Schlaf bekommen letzte Nacht. Felix und ich gehen solange auf den Spielplatz«, sagte Eduard.
Sie blieb liegen und nickte. Felix zog mit seinen kleinen dicken Fingern ihre Lider hoch. Sie ließ ihren Kopf auf die Brust sinken. Wie sehr sie ihn liebte, wie unfassbar groß diese Liebe war.
Nach
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