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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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schien dieser Kommentar nicht zu persönlich gewesen zu sein, denn sie antwortete: »Alle großen Arbeiten hungern. Oderman selbst. Und wenn sie einmal zu Ende sind, ist man selbst entweder zu dick oder zu dünn. Bei mir ist es allerdings eher: zu dick.« Friederike schaute mit einer hochgezogenen Braue auf die Rundungen unter ihrem T-Shirt.
    Alison lachte, schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Das kannte sie nicht. Zu- und Abnehmen war nie ihr Thema gewesen. Ihr Körper war von den Schwankungen ihrer Seele immer verschont geblieben.
    Friederike fasste sich mit einem Griff um die Taille, dann fuhr sie fort: »Wie in der Liebe. Wenn man sich auf das Wagnis einlässt ..., und wenn man sich nicht auf das Wagnis einlässt, dann ist es noch viel schlimmer.«
    Alison schwieg. Das kannte sie auch nicht. Sie hatte sich auf Victor eingelassen, ohne sich schützen zu müssen, und es wurde immer schöner, je mehr sie sich ihm hingab. Und schon wieder beschlich sie dieses unangenehme Gefühl, das sie immer beschlich, wenn das Gespräch auf Beziehungsproblematiken kam, weil sie nicht die sein wollte, die anders war, weil sie nicht die mit der heilen Welt sein wollte.
    »Deswegen kümmere ich mich lieber um meinen Beruf als um die Liebe, da kommt mehr raus – bei mir jedenfalls«, sagte Friederike. »Jetzt habe ich nur von mir geredet. Willst du mir heute vielleicht verraten, was du machst?«
    Alison gab sich einen Ruck: »Ich bin Illustratorin«, sagte sie. »Wenn es gut läuft, dann zeichne ich die Sternbilder für große Magazine. Aber eigentlich wollte ich das nur nebenher machen, neben den Photos und Installationen. Aber jetzt, jetzt mache ich nichts anderes mehr. Alles andere ist mir abhandengekommen. Ob überhaupt noch mal was kommt, weiß ich nicht.«
    »Willst du mir mal einen neuen Hausgeist zeichnen?« fragte Friederike, »ich bezahle auch dafür.«
    Alison nickte: »Einen mit Locken, Kochmütze und hohen Schuhen.«
    Friederike lachte, dann hielt sie inne. »Ich kämpfe jeden Tag dagegen, dass der Laden mich frisst. Er ernährt mich, insofern darf er ruhig auch was von meinem Kuchen abbekommen, aber manchmal ist er ziemlich maßlos. Und nur weil dahinten diese Texte liegen, die selbst gefräßig sind, frisst er mich nicht mit Haut und Haaren.«
    »Als ich mit dem Illustrieren angefangen habe«, fuhr Alison fort, »hab ich gedacht, ich mach das nur eine Zeit, aber dann ... dann hat sich der Weg von selbst ausgerollt, und ich bin nicht mehr runtergekommen. Es ist nicht einmal Bequemlichkeit, es geht irgendwie nicht.«
    »Mitte dreißig«, sagte Friederike mit einem schiefen Lachen, »es geht uns allen gleich.«
    »Kann man nur hoffen, dass die Rolle irgendwann ausgeht.«
    »Oder auch nicht.«
    »Jede Entscheidung macht Räume zu, und wenn man sich nicht entscheidet, dreht man sich im Kreis.«
    »Grässlich.«
    »Ja, grässlich. Vielleicht doch auswandern. Nach Japan ziehen.«
    »Japan?« fragte Friederike, »ausgerechnet.«
    »Ich mag Japan, ich mag das Essen, die Mangas, die alten Filme. Ich scheine irgendeine merkwürdige Verbindung zu Japan zu haben, obwohl ich noch nie dort war und auch nicht wirklich viel darüber weiß.«
    Friederike nahm die Textsammlung in die Hand und zeigte auf das Haiku, das auf der ersten Seite stand:
     
    Wenn ich denke,
    dass es mein Schnee ist auf dem Hut,
    wird er mir leichter.
     
    Plötzlich mischte sich ein anderes Geräusch in die Szene, das von außen zu kommen schien, von weit außen. Das Gespräch mit Friederike verstummte, verschwamm.
     
    Alison wachte auf. Sie lag in ihrem Bett. Sie hatte geträumt.
     
    Das Geräusch schien aus dem Treppenhaus zu kommen.
    Was war das? Sie schlich in den Flur und lauschte an der Tür. Nichts zu hören. Sie hielt Victors Pyjamahosen an der Taille zusammen und schaute hinaus. Das Treppenhaus war leer. Das erste Tageslicht fiel schwach durch die bunten Fenster und warf eine blasse Art-déco-Zeichnung auf die Stufen. Sie lehnte sich aus der Tür und knipste das Licht an. Die Tüten mit den aussortierten Kleidern, die sie vorhin noch hinausgestellt hatte, waren verschwunden. Auf dem Treppenabsatz lag nur noch ihr grünes, rückenfreies Oberteil. Der Dieb musste es in der Eile verloren haben, jedenfalls lag es da und schillerte wie eine gerade verlassene Schlangenhaut. Da war es wieder – das Rascheln. Sie sprang ans Treppengeländer und beugte sich nach unten, doch von dort wehte ihr nur die kalte Nachtluft entgegen. Wahrscheinlich war gar

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