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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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grüne Hose trug. Ihre Knie waren verschrammt, sie hatte ihre zerschlissene Sporttasche über der Schulter und strahlte mit dem ganzen Gesicht. Man hätte sie für einen Jungen halten können. Jedenfalls hatten alle ihre Freundinnen anders ausgesehen. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Mutter so ein Photo aufstellen würde, niemals; viel eher eines, auf dem sie gekämmt war, gescheitelt und ordentlich gekleidet. Es war ein Photo vor ihrer Zeit mit den Ausländern, aber es zeigte sie so, wie sie sich in dieser Zeit gefühlt hatte, wenn sie frei war.

 
    Als Siri zu Hause ankam, war Eduards Cousine mit den Kindern zu Besuch. Es war laut, das Wohnzimmer sah aus wie nach einem Kindergeburtstag, und Felix rannte mit einem neuen Feuerwehrhelm auf dem Kopf an ihr vorbei. Er war vergnügt, und sein Spaß trieb ihr ein Lachen ins Gesicht, auch wenn Eduard versprochen hatte, dass er seiner Cousine absagen würde, auch wenn er so getan hatte, als hätte er verstanden.
    »Da ist sie ja! Hallo. Eduard meinte zwar, ich solle nicht, aber ich dachte, du könntest etwas Hilfe gebrauchen – in deinem Zustand.« Die Cousine kam auf sie zu, so handfest, wie man nur sein konnte.
    In ihrem Zustand? Sie versuchte Eduard einen Blick zuzuwerfen, der ihm zu verstehen gab, dass er die Situation irgendwie in den Griff bekommen musste.
    »Wirklich kein Problem, du kennst mich, ich helfe gern, und die Kinder sind froh, Felix mal wieder ...«
    »Ich ...«, sie versuchte den Redefluss zu stoppen, der auf sie zielte, als wolle er sie gießen, wässern, düngen, »muss mich hinlegen«, als sei sie verdorrt.
    »Ja, klar, deswegen bin ich ja da«, antwortete die Cousine und nahm sie in den Arm. Und Siri war erstaunt: Die Umarmung war weich genug, dass sie diese Geste sogar annehmen konnte.
    Die Cousine sagte: »Kinder, wir brauchen einen Krankentransport, kommt alle her.«
    Und sie kamen mit Sirenengeheul, die drei kleinen dicken Cousins und Felix, und jeder nahm einen Zipfel ihrer Kleidungund zog sie ins Schlafzimmer. Als sie dort angekommen waren, sagte Eduards Cousine: »So, und jetzt lasst sie in Ruhe und kommt in die Küche, wir backen einen Kuchen für die Patientin, ja?«
    Jubel brach aus, Felix warf ihr einen ganz kurzen zögerlichen Blick zu, dann aber drehte er sich um und rannte der Horde hinterher in die Küche. Er liebte es, wenn Kinder zu Besuch waren, sie würde das wirklich öfter machen müssen.
    Die Cousine flüsterte ihr zu: »Erhol dich«, und als sie die Tür schloss, drehte sie sich noch einmal um und seufzte, als wisse sie, wie sie sich fühlte.
     
    Als sie Eduard ein paar Minuten später den Gang entlang in ihre Richtung gehen hörte, drehte sie sich um und stellte sich schlafend. Glaubte er wirklich, er meinte es gut? Er öffnete leise die Tür und steckte seinen Kopf herein. Glaubte er wirklich, dass er ihr einen Gefallen tat, wenn er ihr auf diese Weise Lebendigkeit demonstrierte? Er schloss die Tür wieder und ging den Gang weiter in die Küche. Er verstand sie einfach nicht. Und sie hatte ihn nicht verdient.
    Sie nahm ein paar Schlaftabletten, die auf dem Nachttisch lagen, schloss dann die Augen, hörte, wie Indianer vor ihrer Tür Kampfschreie ausstießen, und sah Großmutter, die sich an ihrem verknoteten Schal aus ihrer Wohnung abseilte. Der Morgenmantel war nur noch schemenhaft an der Tür zu erkennen, aber er hatte auch einen Gurt, an dem man sich abseilen konnte – ins Leben oder aus dem Leben heraus. Erst einmal schlafen. Der Schlaf war im Moment das einzige Wesen, das sie verstand.
     
    Irgendwann wachte sie wieder auf, weil es so ruhig war in der Wohnung. Der Gang war übersät mit Spielzeug, in der Küche stand ein Nusskuchen mit Sahneherz und auf dem Esstisch mehrere halbvolle Saftgläser. Auf ihrem Telefon war ein Anruf von Vera, ohne Nachricht. Sie zog sich an und fuhr los.
     
    Die Tür war einen Spalt weit offen. Vera war nicht zu sehen. Sie zögerte kurz und trat dann ein. Die Wohnung sah aus wie immer, nur dass Vera nicht in der Tür stand und sie hereinwinkte. Sie schloss die Tür. Was auch immer jetzt passierte, es ging niemanden etwas an.
    »Vera?« rief sie leise. Es kam keine Antwort, aber sie hatte keine Angst, schlimmer als bei Großmutter konnte es nicht werden. Sie war vorgewarnt. Sie hörte ein Geräusch, rief noch einmal Veras Namen und hörte nun deutlichere Geräusche, ein Rascheln, ein Knistern. Sie stieß die Tür zum Schlafzimmer auf und sah Vera auf dem Bett sitzen. Auf ihren

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