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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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seidenen Morgenmantel wäre Bette Davis neidisch gewesen. Ihre Augen waren leicht gerötet, aber sie lächelte und richtete sich die Haare.
    «Siri ...«, rief sie mit ihrer rauen Stimme. »Verzeih, ich wollte nicht in diesem Aufzug im Korridor stehen und diesen Spießern hier eine Freude machen.«
    Sie lief auf Vera zu, so wie sie es bei ihrer Großmutter nicht gekonnt hatte, und nahm sie in die Arme.
    »Weißt du, nicht dass er mich sitzenlässt, dass er mit meiner besten Freundin abhaut und dass er alles mit Füßen tritt, nicht das ist die Schweinerei, sondern wie er es getan hat. Sang- und klanglos, ohne Stil, ganz ohne Stil, so als sei er ein Portier, ein Nachtwächter, ein Schmierfink«, sagte Vera. Dann schüttelte sie sich, als wollte sie diesen ganzen Unrat abwerfen, von sichwerfen, loswerden: »Und irgendwie hat Charlotte das einzig Richtige getan.«
    »Was meinst du?« fragte sie.
    »Sich aus dem Staub machen«, antwortete sie und nahm einen Schluck aus dem Sherryglas, »ich hätte das auch machen sollen, vor zwanzig Jahren, bevor es zu spät war.«
    Gerade als sie etwas sagen wollte, hob Vera wieder die Hand: »Irgendwann hatte ich die Kraft nicht mehr.«
    »Vera ...«, versuchte sie erneut, doch die schnitt ihr das Wort ab: »Nein, Siri, das verstehst du nicht, in deinem Alter hätte ich schwören können, dass ich genau in dem Moment gehe, in dem es vorbei ist, aber ich habe die Grenze ein paar Mal verschoben, und dann habe ich sie irgendwann nicht mehr gefunden. Und alleine ziehen konnte ich sie nicht. Aber weißt du, das ist es gar nicht, das ist es nicht.« Sie brach ab, fuhr sich durch die Haare und dann mit den Zeigefingern die Augenbrauenbogen entlang.
    Siri hielt den Atem an und dachte, dass es mit Eduard schon lange vorbei war, wenn es überhaupt je angefangen hatte, und dass sie ihre Grenzen auch nicht wiederfand und auch nie wiederfinden würde, und dass sie schon längst in einem Land war, aus dem sie nie wieder herauskam, und dass es für ihren Geschmack heute schon genug Neuigkeiten gegeben hatte.
    »Weißt du, was das einzig wirklich Traurige ist: dass ich keine Kinder mehr bekommen kann«, fuhr sie fort und schaute sie nachdrücklich an. »Aus und vorbei.«
    Was? Was redete sie da?
    »Ich weiß, das klingt verrückt, und vielleicht ist es auch verrückt, aber ich hatte den Wunsch irgendwie noch nicht aufgegeben«, sagte sie und lehnte sich zurück, als sei sie erleichtert, diese Sätze gesagt zu haben, »solange Albert undich noch zusammen waren, hatte ich den Wunsch ...«, sie brach kurz ab, holte Luft, »hatte ich ihn noch nicht aufgegeben.«
    Was?
    »Ich weiß schon, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann, allein diese ganze demütigende Schwitzerei hat es mir mehr als deutlich gezeigt, aber trotzdem.« Sie versank eine Weile in Gedanken. »Wir hatten beide immer Kinder gewollt. Beide. Und jetzt? Jetzt ist nicht nur mein Körper, sondern auch noch mein Wunsch entgleist.«
    Jetzt lehnte Vera sich zurück auf das Kissen und schaute sie mit einem Blick an, der voll kindlicher Sehnsucht war.
    Sie nickte.
    »Und jetzt?«
    Sie hob die Schultern.
    »Jetzt werde ich mir keine Kinder mehr wünschen können, weil ich jetzt nicht nur zu alt dafür bin, sondern auch keinen Mann mehr dafür habe«, sagte Vera und lächelte sie schräg an, mit einem Lächeln, das allen Witz und alle Traurigkeit der Welt in sich trug.
    Siri schüttelte den Kopf.
    »Du glaubst also auch, dass es das jetzt war?« fragte Vera.
    »Was?« entgegnete Siri.
    »Das Leben. Das, worum es immer ging?«
    Siri legte ihre Hand auf Veras Knie.
    Vera schüttelte sich, zog sich den seidenen Gürtel ihres türkisfarbenen Morgenmantels enger und stieß einen Seufzer aus: »Das hättest du nicht gedacht, was? Dass deine Tante Vera so verquere Ideen hat? Wir haben alle unsere Abgründe, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns unterkriegen lassen, oder was meinst du, mein Täubchen?«
    Sie lachte Vera an: »Du nicht, Vera.«
    Vera schaute aus dem Fenster und wiederholte: »Ich nicht und du auch nicht.«
    »Tee?« fragte sie.
    »Tee?«
    »Sherry?« fragte Siri nun.
    Aus Veras Gesicht schimmerte ihr alter verschmitzter Ausdruck.
    Sie ging den Gang entlang Richtung Salon. Was für ein Drachenfels Vera war, was für ein riesiger, großartiger Drachenfels.
     
    Vera und Siri tranken den Sherry wort- und tonlos. Und Siri musste die ganze Zeit an Felix denken, dass er ihr irgendwie entschwand über die letzten Tage, dass sie

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