Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
dich da sehen?«
»Ich glaube nicht.«
Im nächsten Moment stand Cecilies Mutter im Zimmer. »Cecilie?«
»Mmm ...«
»Du hast ja Licht an?«
»Wie du siehst.«
»Ich wollte nur schauen, wie es dir geht.«
»Ist schon Morgen?«
»Es ist drei Uhr.«
»Aber ich habe den Wecker gehört.«
»Ich hatte ihn auf drei gestellt.«
»Warum?«
»Weil ich dich liebhabe. Ich kann doch nicht einfach eine ganze Nacht vergehen lassen, und eine Weihnachtsnacht schon gar nicht.«
»Geh nur wieder schlafen, Mama.«
»Kannst du denn schlafen?«
»Manchmal schlafe ich, manchmal bin ich wach. Ich kann das eine nicht mehr vom andern unterscheiden.«
»Möchtest du irgendwas?«
»Ich hab ja Wasser.«
»Und zur Toilette mußt du auch nicht?«
Cecilie schüttelte den Kopf.
»Ihr habt so schön gesungen. Ich bin eingeschlafen, obwohl Oma Klavier gespielt hat.«
»Soll ich ein bißchen das Fenster öffnen?«
»Ja, vielleicht.«
Mama ging ans Fenster. Cecilie glaubte, Ariel auf der Fensterbank sehen zu können, aber er schien immer mehr zu verschwinden, als ihre Mutter sich näherte.
»Kannst du die Eisblumen sehen?« fragte ihre Mutter. »Ist es nicht seltsam, daß die sich selber malen können?«
Sie öffnete das Fenster.
»So vieles ist seltsam, Mama. Aber ich hab das Gefühl, jetzt, wo ich krank bin, verstehe ich alles besser. Die ganze Welt scheint schärfere Umrisse zu bekommen.«
»Das ist oft so. Wir brauchen nur eine heftige Grippe zu haben, schon hören wir die Vögel draußen auf völlig andere Weise.«
»Hab ich dir erzählt, daß mir der Postbote heute zugewinkt hat?«
»Ja, hast du ... so, jetzt mache ich das Fenster wieder zu.«
Sie kam zum Bett zurück und nahm Cecilie in den Arm.
»Schlaf gut. Ich stelle den Wecker auf sieben.«
»Das brauchst du nicht. Es ist doch Weihnachten.«
»Gerade deshalb. Aber, Cecilie ...«
»Ja?«
»Sollen wir dein Bett nicht in unser Zimmer stellen? Das ist vielleicht schöner für dich . und für Papa und mich auch ein bißchen einfacher.«
»Könnt ihr nicht lieber rüberkommen?«
»Doch, natürlich. Klingel einfach mit deiner Glocke, sooft du willst ... auch mitten in der Nacht.«
»Sicher. Aber Mama .«
»Ja?«
»Wenn ich Gott wäre, hätte ich die Welt so erschaffen, daß jedes Kind mindestens drei Eltern hätte.«
»Warum sagst du so was?«
»Dann wärt ihr nicht so erschöpft. Und du und Papa hättet ein bißchen Zeit für euch, weil Mama oder Papa Nr. 3 sich um Lasse und mich kümmern würde.«
»So was darfst du nicht sagen.«
»Warum nicht? Ich weiß ja, daß sich die Schöpfung jetzt nicht mehr verändern läßt. Aber ich finde manchmal, daß Gott ein großer Dussel ist. Der ist ja nicht mal allmächtig!«
»Ich glaube, du bist ein bißchen wütend, weil du so krank bist!«
»Ein bißchen?«
»Oder von mir aus auch sehr. Schlaf jetzt gut. Wut hilft dir auch nicht weiter, Cecilie!«
»>Wut hilft dir auch nicht weiter, Cecilie!< Das hast du mir schon hundertmal gesagt.«
»Aber ich hoffe und bete, daß du wieder gesund wirst. Das tun wir alle.«
»Natürlich werde ich wieder gesund. Solchen Blödsinn hast du schon lange nicht mehr geredet.«
»Morgen kommt Kristine mit deiner Spritze.«
»Da siehst du’s!«
»Was denn?«
»Du glaubst doch wohl selber nicht, daß sie am Ersten Weihnachtstag den weiten Weg machen würde, wenn sie nicht glaubte, daß die Spritze hilft. Du bist wirklich schwachsinnig, Mama. Total dumpf im Kopf, weil du schon viel zu lange lebst.«
»Natürlich glaubt sie, daß die Spritze hilft. Das glaube ich doch auch . Bist du sicher, daß du nicht in unser Zimmer umziehen willst?«
»Ich bin bald erwachsen. Kapierst du denn nicht, daß ich mein eigenes Zimmer haben will?«
»Doch, schon.«
»Und euch beim Schnarchen zuzuhören ist auch nicht besonders lustig.«
»Das verstehe ich.«
»Nimm’s nicht persönlich ... ach, und danke für die Geschenke.«
»Soll ich das Licht ausmachen?«
»Nein, das mach ich schon selbst. Und zwar in dem Moment, wenn ich mit Denken fertig bin.«
A ls ihre Mutter wieder im Schlafzimmer war, fischte Cecilie Stift und Notizbuch unter ihrem Bett hervor und schrieb:
In jeder Sekunde werden funkelnagelneue Kinder aus dem Jackenärmel der Natur geschüttelt. Hokuspokus! In jeder Sekunde verschwinden auch viele Menschen. Gott schickt seine Menschen aus, er schickt Cecilie zum Tor hinaus ...
Nicht wir kommen auf die Welt, die Welt kommt zu uns. Geboren zu werden bedeutet, daß uns
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