Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
eine ganze Welt geschenkt wird.
Manchmal breitet Gott resigniert die Arme aus und sagt sich: »Ich weiß ja, daß alles mögliche anders sein könnte, aber getan ist getan, und ich bin schließlich nicht allmächtig.«
Cecilie schob Buch und Stift wieder unters Bett, dann nickte sie ein.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als sie die Augen aufschlug und sich umsah. Der Schnee auf dem hohen Baum vor dem Fenster leuchtete ins Zimmer. Die Eisblumen an der Scheibe schienen aus Gold zu sein. »Ariel«, flüsterte sie.
»Hier bin ich.«
»Aber ich kann dich nicht sehen.« »Hier ...«
Erst jetzt entdeckte sie ihn. Er hatte es sich ganz oben im Bücherregal, dort, wo keine Bücher standen, gemütlich gemacht.
»Wie bist du da oben raufgekommen?«
»Für einen Engel ist das überhaupt kein Problem. Hast du gut geschlafen?«
Gleich darauf stand er vor ihr. Cecilie hatte ihn nicht springen sehen, sie hatte auch nichts gehört. Plötzlich stand er einfach vor ihr auf dem Boden und machte sich an den neuen Skiern zu schaffen.
»Schöne Skier«, sagte er. »Und ein schöner Schlitten.«
Er drehte sich zu ihr um, da sah sie wieder, wie schön er war. Seine Augen waren noch etwas klarer als in ihrer Erinnerung, blaugrün und geheimnisvoll. Sie erinnerten Cecilie an einen bestimmten Edelstein, von dem es ein schönes Bild in ihrem großen Buch über Schmucksteine gab. Wie hieß er doch noch - Sternsaphir?
»Woher hast du gewußt, daß Mama kommen würde?« fragte sie.
»>Daß Mama kommen würde<«, wiederholte Ariel. »Woher hast du gewußt, daß Mama kommen würde?<«
»Du äffst mich nach!«
»Ich will bloß wissen, wie die Wörter schmecken.«
»Wie die Wörter schmecken?«
Er nickte:
»Sie sind das einzige, was ein Engel schmecken kann.«
»Und haben sie gut geschmeckt?«
»Ja, aber auch ein bißchen komisch.«
»Wieso das?«
»Findest du es nicht komisch, daß du mal im Bauch deiner Mutter rumgeplanscht hast?«
Cecilie seufzte nachsichtig. Ihr fiel ein, daß für einen
Engel alles, was mit Geburt zu tun hatte, himmelweit entfernt war. Sie sagte:
»Woher hast du gewußt, daß sie kommen würde?«
»Sie hatte ihren Wecker auf drei Uhr gestellt.«
»Du kannst doch nicht auch durch die Wand sehen?«
Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Jetzt hör endlich auf mit dem Quatsch. Was du >Wand< nennst, ist für uns keine.«
Sie schlug sich die Hand vor den Mund.
»Dann hast du einen Röntgenblick. Kannst du auch durch meinen Körper hindurchsehen?«
»Wenn ich will. Aber ich weiß nicht, was das für ein Gefühl ist, wenn alles, was ihr eßt, in eurem Magen vermischt und zu Fleisch und Blut wird.«
Ihr schauderte.
»Ich glaube, wir sollten lieber über etwas anderes reden.«
»Von mir aus gern.«
»Kannst du ein bißchen näher kommen?«
Gleich darauf saß er auf dem Stuhl vor Cecilies Bett. Er schien einfach den Platz gewechselt zu haben, ohne sich zu bewegen.
»Ich habe nicht sehen können, wie du dich bewegt hast«, sagte sie. »Plötzlich sitzt du einfach hier.«
»Wir brauchen uns nicht so zu >bewegen< wie ihr. Sag, wo ich hin soll, schon bin ich da.«
»Das mußt du mir genauer erklären. Und du mußt mir erzählen, wie ihr es schafft, durch geschlossene Türen zu gehen. Das habe ich noch nie kapiert.«
Er zögerte.
»Gut, aber nur unter einer Bedingung.«
Cecilie fuhr auf.
»Ich wußte gar nicht, daß Engel für ihre guten Taten Bedingungen stellen!« »Du bittest mich ja auch nicht um eine gute Tat. Du willst, daß ich dir die himmlischen Geheimnisse verrate.«
»Und was ist deine Bedingung?«
»Daß du mir die irdischen Geheimnisse erzählst.«
»Ach, die kennst du doch alle!«
Ariel rutschte zur Stuhlkante vor.
»Ich weiß nicht, was es für ein Gefühl ist, einen Körper aus Fleisch und Blut zu haben«, sagte er. »Ich weiß nicht, was es für ein Gefühl ist, wenn man wächst. Ich weiß auch nicht, was es für ein Gefühl ist zu essen, zu frieren oder süß zu träumen.«
»Ich bin bestimmt nicht der erste Mensch, mit dem du redest. Hast du nicht gesagt, daß ihr schon seit aller Ewigkeit da seid?«
»Ich habe aber auch gesagt, daß wir Engel nie aufhören, uns über die Schöpfung zu wundern. Und wir offenbaren uns durchaus nicht so oft. Als Krankenengel bin ich zuletzt vor über hundert Jahren in Deutschland eingesetzt worden.«
»Und bei wem warst du damals?«
»Er hieß Albert und war sehr krank.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Es ging leider nicht
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