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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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und erzählten ihm, was sie gesehen hatten. Auf diese Weise wußte Odin über alle Ereignisse auf der Welt Bescheid. Aber er hatte auch Angst, sie könnten eines Tages nicht mehr zurückkommen. Die Raben waren außerdem Aasvögel, die Odin halfen, Tote aufzuspüren. Odin saß in Asgard auf einem Hochsitz namens Lidskjalv. Er war nicht nur der weiseste unter den Göttern. Er war auch der schwermütigste, denn nur Odin wußte von der Götterdämmerung, dem großen Untergang, der näher rückte .
    Großmutter erzählte sehr viel über Odin und seine beiden Raben. Später an diesem Nachmittag schlief Cecilie ein. Zuerst döste sie eine Weile vor sich hin, dann kam der richtige Schlaf. Als sie aufwachte, hörte sie, daß die anderen unten beim Abendbrot saßen. Sie hatten gerade erst angefangen, denn Cecilie hörte ihre Mutter sagen: »Ich reiche die Suppe einfach herum. Wir machen heut keine Umstände .«
    Am Ersten Weihnachtstag gab es immer zuerst Blumenkohlsuppe, dann Rinderbraten.
    Cecilie zog ihr chinesisches Notizbuch unter dem Bett vor und blätterte darin herum. Vor einigen Wochen hatte sie von Großmutter eine wunderschöne Perlenkette bekommen, ein altes Erbstück. Damals hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben:
     
    Wenn ich sterbe, reißt eine Silberschnur mit glatten Perlen, die durch das Land rollen und zu den Muschelmüttern auf dem Meeresgrund zurückkehren. Wer wird nach meinen Perlen tauchen, wenn ich nicht mehr da bin? Wer wird wissen, daß sie mir gehört haben? Wer wird erraten können, daß einmal die ganze Welt um meinen Hals gehangen hat?
     
    Sie knabberte an ihrem Filzstift und dachte daran, worüber sie nachts mit dem Engel Ariel gesprochen hatte. Sie versuchte, sich an soviel wie möglich zu erinnern, um es dann nach und nach in ihr Tagebuch einzutragen:
     
    Die Engel im Himmel können niemals zerbrechen. Sie haben nämlich keinen Körper aus Fleisch und Blut, von dem sich ihre Seele trennen kann. So geht es in der Schöpfung nicht zu. Hier kann alles ganz leicht kaputtgehen. Sogar ein Berg wird langsam abgeschliffen und schließlich zu Erde und Sand. Alles in der Natur ist wie ein langsamer Brand. Die ganze Schöpfung scheint gewissermaßen im Moos zu schwelen.
    Nicht immer begreift man voll und ganz das, was man erschaffen hat. Ich kann zum Beispiel etwas auf ein Blatt Papier zeichnen. Das heißt aber nicht, daß ich verstehe, was es
    für ein Gefühl ist, von mir gezeichnet worden zu sein. Was ich zeichne, ist ja nicht lebendig. Und das ist doch gerade so seltsam: daß ich lebendig bin!
     
    Als ihr nichts mehr einfiel, legte Cecilie das Buch auf den Boden und schob es unters Bett.
    Danach war sie wohl wieder eingeschlafen, denn als sie wach wurde, hörte sie neben sich eine Stimme:
    »Hast du gut geschlafen?«
    Es war der Engel Ariel. Cecilie blickte auf. Er kniete am Fußende des Betts.
    »Ich war die ganze Zeit hier«, versicherte er.
    »Aber ich habe dich nicht gesehen.«
    Er zögerte, ehe er antwortete.
    »Ich habe vielleicht nicht erzählt, daß es zwei verschiedene Formen von Engelsbesuch gibt. In der Regel sitzen wir einfach nur bei euch, ohne uns zu erkennen zu geben. Doch ganz selten offenbaren wir uns, so wie jetzt.«
    »Aber beide Male seid ihr als Schutzengel hier?«
    »Beide Male, ja.«
    »Und als du bei dem kranken Jungen in Deutschland warst?«
    »Da war ich einfach nur da.«
    »Ich begreife noch nicht ganz, wie du hier im Zimmer sein kannst, ohne daß ich dich sehen kann.«
    »Das ist nicht so schwer zu erklären.«
    »Schieß los!«
    »Wenn du träumst, daß du an einem fremden Strand bist, kannst du dann nicht nachher behaupten, in gewisser Hinsicht an diesem Strand gewesen zu sein?«
    »Irgendwie schon ...«
    »Aber haben dich die Menschen, die an diesem Strand waren, gesehen?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Du könntest aber auch mit Tjsreborg-Reisen hinfahren und am Strand baden. Dann würden die Menschen dich sehen, weil du dich offenbart hättest.«
    Sie blickte in die blaugrünen Saphiraugen hoch.
    »Schlauer Vergleich ... und übrigens hast du mich wirklich nur mit knapper Not ins Bett geschafft, ehe Mama aufgewacht ist.«
    »Ja, das war wirklich um Haaresbreite.«
    »Wenn wir es nicht geschafft hätten, hätte sie einen Schock gekriegt. Vielleicht hätte sie gedacht, ich wär wieder gesund. >Nein, wie schön, Cecilie! Daß du plötzlich wieder völlig gesund bist!<«
    Ariel lachte.
    »Ich finde es seltsam, dir beim Schlafen zuzusehen.«
    »Schlafen Engel denn

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