Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
ganze Zeit, daß du den Unterschied zwischen Engeln und Menschen übertreibst.«
»Das ist um so erstaunlicher, wenn wir unseren unterschiedlichen Hintergrund bedenken. Ihr steckt auf einem zufälligen Planeten im All und seid aus einigen Millionen Molekülen zusammengeschustert. Und ihr seid nur kurze Zeit hier. Aber ihr trippelt auf leichten Füßen durch die Schöpfung. Ihr redet und lacht und denkt schlaue Gedanken, genau wie die Engel im Himmel.«
»Findest du es nicht genauso geheimnisvoll, ein Engel zu sein?«
»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Der Unterschied ist, daß wir immer schon hier waren. Und wir wissen, daß wir nie ins leere Nichts stürzen werden wie eine geplatzte Seifenblase. Wir sind einfach, Cecilie. Wir sind das, was wir immer gewesen sind und immer bleiben werden. Ihr kommt und geht .«
Sie seufzte tief.
»Ich wünschte, ich hätte mir öfter überlegt, wie es ist zu leben.«
»Dazu ist es ja nie zu spät.«
»Ich weiß nicht so recht, warum, aber plötzlich bin ich ganz traurig .«
Er fiel ihr ins Wort.
»Laß das! Dann müßte ich dich ja trösten und mich sonstwie anstellen. Manchmal habe ich das Gefühl, bei euch wird nur gequengelt und gejammert.«
»Du hast gut reden!«
»Jetzt ist nur noch ein Sinn übrig. Der ist ein wenig vager, aber deshalb ist er noch lange nicht weniger rätselhaft.«
Sie wischte sich eine Träne ab.
»Mir fällt nicht ein, wie der fünfte Sinn heißt ... Gefühl?«
Ariel nickte.
»Wir haben ja schon über den dünnen Mantel aus Haut und Haaren gesprochen, in den Fleisch und Blut von Kopf bis Fuß eingekapselt sind. Was ihr eßt, schmeckt ihr mit der Zunge. Aber ihr könnt im Grunde ja mit dem ganzen Körper schmecken. Ihr schmeckt, ob etwas kalt oder warm, naß oder trocken, glatt oder rauh ist .«
»Ich finde das gar nicht so seltsam.«
»Für einen Engel ist das vielleicht das allerseltsamste überhaupt. Die Steine am Strand können nicht fühlen, daß sie sich aneinander reiben, wenn die Wellen ans Ufer schlagen. Ein Stein spürt auch nicht, daß du ihn anfaßt. Aber du kannst den Stein fühlen.«
»Hast du dir eigentlich schon meine Steinsammlung richtig angesehen? Einige Steine habe ich gekauft, andere geschenkt bekommen, aber die meisten habe ich gefunden. An einem >unbekannten Strand<.«
»Auf Kreta, meinst du.«
Sie kam sich fast verraten vor.
»Auch das hast du schon gewußt?«
Er nickte.
»Ich habe mir deine Steine oft angeschaut, wenn du schliefst. Aber ich werde nie begreifen, was es für ein Gefühl ist, sie anzufassen.«
»Dann verpaßt du etwas sehr Wichtiges. Einige Steine sind so glatt und rund, daß ich loslachen möchte.«
Ariel hob von dem grünen Sessel ab und schwebte zur Decke. Dabei sagte er:
»Jetzt haben wir über alle fünf Sinne gesprochen .«
Cecilie unterbrach ihn.
»Aber es gibt noch einen sechsten Sinn.«
»Ja?«
»Manche Leute behaupten, einen Sinn zu haben, der ihnen Dinge mitteilt, die sie mit den fünf üblichen Sinnen nicht erfassen können. Sie können zum Beispiel erraten, was in der Zukunft passieren wird. Oder sie wissen, wo jemand etwas verloren hat. Andere halten das für puren Aberglauben.«
Ariel nickte geheimnisvoll.
»Vielleicht hilft uns dieser Sinn ja eines Tages, den alten Weihnachtsstern wiederzufinden.«
»Weißt du denn, wo er ist?«
»Wir werden sehen.«
Cecilie dachte über Weihnachten nach. Sie sagte:
»Ich frage mich, ob nicht auch die eigentliche Weihnachtsstimmung etwas mit diesem sechsten Sinn zu tun hat. Vielleicht haben wir zu Weihnachten größere Ähnlichkeit mit den Engeln als sonst im Jahr. Auf jeden Fall hat Weihnachten mit allen anderen Sinnen zu tun. Ich kann Weihnachten riechen, ich kann es schmecken, und ich kann es sehen und hören. Aber ich kann auch alle Pakete in die Hand nehmen und raten, was drin steckt.«
Ariels Gesicht leuchtete auf.
»>Was drin steckt<, genau. Auch darüber möchte ich gern mit dir reden.«
»Über das, was in den Weihnachtspaketen steckt?«
»Nein, über das, was in dir drin steckt.«
»Igitt, das hört sich ja scheußlich an.«
»Das ist komisch!«
»Was?«
»Daß ihr es scheußlich findet, über das zu reden, woraus ihr besteht. Stell dir einen Stein vor, der den Gedanken, ein Stein zu sein, nicht ertragen könnte. Dann wäre er ein sehr unglücklicher Stein, denn dann müßte er viele Jahrtausende hindurch mit seiner Selbstverachtung leben, ehe er sich langsam auflöste und zu Kies und Sand würde. Aber ihr
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