Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
hat’s überlebt, aber ich glaube, er sieht nicht mehr allzu gut.«
»Das wird schon wieder.«
Eine Pause entstand. Ich konnte seinen Atem am Hörer hören.
»Nun, Tempe, eine schonende Art gibt es nicht, also sage ich es einfach geradeheraus. Der Rektor hat mich heute zu sich bestellt. Er hat eine Beschwerde wegen Ihres Verhaltens bei der Absturzermittlung erhalten und beschlossen, Sie bis zu einer gründlichen Untersuchung des Falls zu suspendieren.«
Ich blieb still. Nichts, was ich in Bryson City tat, hatte mit der Universität etwas zu tun, aber ich stand auf ihrer Gehaltsliste.
»Natürlich mit vollen Bezügen. Er sagt, er glaube kein Wort von dem Ganzen, aber er habe keine andere Wahl.«
»Warum nicht?« Ich kannte die Antwort bereits.
»Er fürchtet negative Publicity und hat das Gefühl, die Universität schützen zu müssen. Offensichtlich kümmert sich der Vizegouverneur persönlich um den Fall und macht ziemlichen Druck.«
»Und wie jeder weiß, wird die Universität von der Regierung finanziert.« Meine Hand verkrampfte sich um das Telefon.
»Ich habe jedes Argument vorgebracht, das mir einfiel. Aber er ließ sich nicht umstimmen.«
»Danke, Mike.«
»Sie sind natürlich in der Fakultät jederzeit wieder willkommen. Sie könnten Beschwerde einlegen.«
»Nein. Ich werde diese ganze Geschichte erst einmal klären.«
Danach vollzog ich meine allabendliche Routine mit Seife, Zahnpasta, Oil of Olaz und Handcreme. Sauber und eingecremt schaltete ich das Licht aus, kroch unter die Decke und schrie so laut ich konnte. Dann zog ich die Knie an die Brust und fing zum zweiten Mal in zwei Tagen zu weinen an.
Es war Zeit, aufzugeben. Ich bin kein Feigling, aber ich musste der Realität ins Auge sehen. Erreicht hatte ich rein gar nichts. Ich hatte nichts entdeckt, das überzeugend genug war, um einen Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen, hatte bei dem Haus mit dem ummauerten Hof kaum etwas gefunden, hatte es mir mit der Presse verdorben. Ich hatte aus einem Archiv etwas gestohlen und beinahe einen Einbruch verübt.
Das war die ganze Sache nicht wert. Ich könnte mich beim Vizegouverneur entschuldigen, das DMORT verlassen und zu meinem normalen Leben zurückkehren.
Mein normales Leben.
Was war mein normales Leben? Autopsien. Exhumierungen. Massenunfälle.
Man fragt mich immer wieder, warum ich so einen morbiden Beruf gewählt habe. Warum ich mit Verstümmelten und Verwesten arbeite.
Nach langem Nachdenken habe ich erkannt, welche Möglichkeiten ich habe. Ich will den Lebenden wie den Toten dienen. Die Toten haben das Recht, identifiziert zu werden. Sie haben einen Anspruch darauf, dass ihre Geschichten zu einem Ende gebracht werden und sie ihren Platz in unserer Erinnerung einnehmen können. Wenn sie durch die Hand eines anderen starben, haben sie außerdem das Recht, dass derjenige zur Verantwortung gezogen wird.
Auch die Lebenden verdienen unsere Unterstützung, wenn der Tod eines anderen ihr Leben verändert: die Eltern, die verzweifelt auf Nachrichten über ein verschwundenes Kind hoffen. Die Familien, die auf Überreste von Angehörigen aus Iwo Jima oder Chosin oder Hué warten. Die Dörfler, die an einem Massengrab in Guatemala oder Kurdistan trauern. Die Mütter und Ehemänner und Geliebten und Freunde, die benommen an einem Aussichtspunkt in den Smoky Mountains stehen. Sie haben ein Recht auf Informationen, Erklärungen, und sie haben einen Anspruch darauf, dass Mörder zur Rechenschaft gezogen werden.
Für diese Opfer und für diese Trauernden entlocke ich Knochen posthume Geschichten. Die Toten werden tot bleiben, was immer ich auch tue, aber es muss Antworten und Verantwortlichkeit geben. Wir können nicht in einer Welt leben, die die Vernichtung von Leben ohne Erklärungen und ohne Konsequenzen akzeptiert.
Natürlich würde eine Verletzung der beruflichen Ethik meine forensische Karriere beenden. Wenn der Vizegouverneur seinen Willen durchsetzte, würde das für mich ein Berufsverbot bedeuten. Ein Fachgutachter mit zweifelhaftem Leumund, der vor Gericht aussagt, ist in jedem Kreuzverhör Freiwild. Wer würde denn einem Gutachten von mir trauen?
Langsam gewann Wut in mir die Oberhand über Selbstmitleid. Ich wollte mich nicht von unbegründeten Vorwürfen und Anspielungen aus der Forensik vertreiben lassen. Ich konnte nicht aufgeben. Ich musste beweisen, dass ich Recht hatte. Das schuldete ich mir selbst. Und mehr noch schuldete ich es Primrose Hobbs und ihrem trauernden Sohn.
Aber
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