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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Von den Blüten stieg ein Duft auf – wie Flammen. Bis zur Schulter tauchte Madoc mit beiden Armen in die Fülle und teilte sie, um noch einmal auf die kleine Grube sehen zu können. In ihr hatte sich in der kurzen Zeit schon wieder etwas Grundwasser gesammelt.
    »Ein anderes Bild! Nichts mehr von Gwydyrs Alpträumen!« befahl Madoc und starrte fordernd in die Pfütze, in der sich die Sonne spiegelte. Gehorsam kräuselte sich das Wasser, glättete sich – und zeigte einmal mehr eine Mutter, die ihr Kind hielt; aber dies war ein anderer Säugling: Seine blauen Augen standen weit auseinander, fingen das Licht, lachten; war das ein fröhliches Kind! »Du wirst deinem Volk viel Gutes tun, El Zarco, mein Kleiner mit den blauen Augen!« schmeichelte ihm die Mutter. »Deine Augen sind ein gutes Zeichen, ein Zeichen des Friedens. Meine Gebete haben sich an dir erfüllt: Dein Leben wie meines aus Schmerzen entbunden , und doch voll Freude; ja, deine blauen Augen bringen uns Segen!»
    Das Spiegelbild zerrann. Nur noch der Widerschein der Wolken schimmerte aus der Pfütze.
    Madoc richtete sich hoch auf. Er warf den Kopf in den Nacken, blickte zum Himmel und rief mit kräftiger Stimme:
    *
    » In der Stunde, die alles entscheiden kann,
    rufe ich, Madoc, die Himmel an.
    Ich rufe die Sonne im gleißenden Brand,
    ich rufe den sanftweißen Schnee überm Land.
    Ich rufe das Feuer in lodernder Helle… «
    *
    Schlagartig brach die Sonne aus den Wolken und richtete einen vollen, glühenden Strahl direkt auf die Fülle der Blüten und Kränze. Der Blumenduft vermengte sich mit dem beißenden Geruch der ersten Rauchwölkchen, die aus dem bunten Gewirr hochkräuselten. Als zwischen den Rauchfahnen die ersten Flammenzungen hervorschossen, trat Madoc seinem Bruder entgegen und sagte triumphierend: »Hier ist mein Feuer, Gwydyr!« Er entwand ihm den brennenden Speer und schleuderte ihn mit aller Kraft in den See. »Und nun wollen wir uns in gerechtem Zweikampf messen!« rief er und faßte Gwydyr wie in brüderlicher Umarmung an den Schultern.
    Die Zeit verstrich. Stunde um Stunde rangen die beiden am Seeufer; sie keuchten vor Anstrengung und zunehmender Erschöpfung, aber noch erlahmte keiner der beiden. Ihre Körper zuckten und wanden sich in einem seltsamen, verzerrten Tanz – und das Windvolk und jene vom Anderen Ende des Sees verfolgten den Kampf in atemloser Stille.
    Die Sonne vollendete ihre Reise über den Himmelsbogen und begab sich hinter dem Wald zur Ruhe, und noch immer lösten sich die beiden Brüder nicht aus ihrer verzweifelten Umklammerung. Ihr rasselnder Atem übertönte sogar das Rauschen des Windes in den Bäumen.
    Allmählich verzehrte das Feuer die Blüten und Kränze, und sie schmolzen zu einem kleinen glühenden Aschenhaufen zusammen. Da gelang es Madoc schließlich, Gwydyr Schritt um Schritt in den See zu drängen und ihn zuletzt unter Wasser zu drücken, bis die aufsteigenden Luftbläschen ihm verrieten, daß sein Bruder schreiend um Milde bat. Er stemmte Gwydyrs Körper hoch und trug ihn ans Ufer. Schlaff hing Gwydyr in Madocs Armen; dunkel wie Blut rann ihm das Wasser aus dem Mund.
    Madoc wandte sich an das Volk jener vom Anderen Ende des Sees. »Setzt eure Boote in die Wellen und schafft euren König nach Hause – in euer Land.« Aus seiner Stimme sprachen Zorn und Schmerz, und in seinen blauen Augen schimmerten Tränen.
    Die drei Boote wurden zu Wasser gelassen. Die Männer schoben die Ruderblätter wieder über die Spitzen der Speere. Madoc warf Gwydyr wie einen vollen Weinschlauch in das mittlere Boot.
    »Geh!« sagte er. »Und laß uns nie wieder den Klang deiner Kriegstrommeln hören.«
    Er bückte sich über den Rand des Einbaums, nahm Gwydyr die goldene Krone vom Kopf und schleuderte sie in weitem Bogen ins Wasser. Dann kehrte er seinem Bruder den Rücken und watete ans Ufer.
    Zyll erwartete ihn.
    Madoc blickte sie an, und er begann zu singen:
    *
    » Ihr Götter von Erde und Wasser und Feuer,
    nun hab ich bezwungen, was dem Herzen so teuer.
    Ihr Götter von Schnee und Regen und Wind,
    nun hab ich errungen des Uralten Kind. «
    *
    Und Zyll sang ihm zu:
    *
    » Verloren, gefunden; genommen, gegeben;
    der Tod überwunden. Wir singen dem Leben. «
    *
    Madoc nahm sie fest in die Arme. »Morgen will ich um meinen Bruder trauern, denn nun erst ist er wahrlich gestorben. Aber heute nacht feiern wir ein Freudenfest.«
    Leise sagte Reschal zu Madoc: »Was uns dein Bruder im Spiegel vorgaukelte, plagt ihn in seinen

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