Durst: Thriller (German Edition)
Küche zurück, holte den Kochlöffel, kniete sich neben den Badezimmereimer und begann, darin herumzuwühlen. Schließlich kippte er ihn aus und zog mit dem Kochlöffel das Papier auseinander, bis er auf einen zusammengeknüllten Zettel stieß, der andres war als die anderen. Er nahm ihn mit ins Wohnzimmer und setzte sich wieder an den Tisch. Die Schrift war praktisch nicht zu entziffern, als hätte sich jemand in aller Eile etwas diktieren lassen. Nach einem zweiten Versuch schaute er zu den abgedunkelten Fenstern hinauf und stellte im Geiste ein paar Verbindungen her. Seine gerunzelte Stirn glättete sich allmählich.
» Hallo. Wir kennen uns nicht, aber ich bin Marco Coimbra, ein Anwaltskollege von Cássia. « Matheus war soeben mit den anderen aus der Schule getreten, als er den Anruf entgegennahm. Er gab Francesca ein Zeichen, kurz zu warten. Serena und die Sozialarbeiterin blieben ebenfalls stehen.
» Hallo. Was gibt’s? «
» Hör zu, Matheus. Cássia hat mir von der Sache erzählt. Können wir uns treffen? «
» Ich bin in Rio und weiß nicht, wie lange ich noch bleibe. «
» Dann lass es uns so machen, Matheus. Ich bereite einen Entwurf für das weitere Vorgehen vor, und wenn du morgen nicht nach São Paulo kommst, schick ich ihn dir. Du gibst mir dein Okay, und wir lancieren die erste Klage. «
» Immer mit der Ruhe, Marco. Ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus. Was für eine Klage? Für eine Klage muss es doch einen Kläger geben, oder irre ich mich? «
» Richtig, aber den Kläger hätten wir. «
Matheus legte die Hand vor die Augen. Die Sonne knallte gnadenlos herab.
» Ach ja? «
» Er heißt Washington Lins dos Santos, ist sechsunddreißig und arbeitet als Tagelöhner. Man hat seinen Bruder und zwei Cousins umgebracht. «
Matheus trat ein paar Schritte beiseite. » Entschuldige mal, Marco, aber was hat das mit dem Blind Narcissus zu tun? Eigentlich sollten wir doch verhindern, dass man am Wasser auf der Fazenda Yaraibi herummanipuliert. «
» Klar. Aber Washingtons Bruder und seine Cousins wurden genau auf diesem Land umgebracht, vor zehn Tagen. Wir fordern die Beschlagnahme des Geländes, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. In diesem Zusammenhang werden wir auch eine Tatortbesichtigung beantragen und uns genau anschauen, was da los ist. Und dann werden wir sämtliche möglichen und unmöglichen Verzögerungstaktiken ausreizen. «
Matheus war verblüfft. » Hat denn bislang niemand die Beschlagnahme des Geländes gefordert? Immerhin sind dreizehn Menschen gestorben. «
» Nein. Das tut nie jemand. «
Matheus schwieg. Die drei Frauen beobachteten ihn und wechselten einen Blick.
» Neulich habe ich mit einem Anwalt aus Curitiba gesprochen, Lirio Fabbri « , sagte Matheus dann. » Er hat mir erzählt, dass diese Dinge praktisch immer im Sande verlaufen, weil in unserem Justizsystem die Verantwortung zwischen tausend verschiedenen Instanzen hin und her geschoben wird. «
» Ich kenne Lirio Fabbri. Er ist ein super Typ, und er hat vollkommen recht. Dieser Höllenmechanismus hat allerdings zwei Seiten. Er ist schrecklich, wenn man ihn gegen sich hat, aber wenn du ihn zu steuern weißt, bietet er auch gewisse Vorteile. «
Matheus gab Francesca ein Zeichen, dass er gleich fertig sei.
» Nur noch eins, Marco. Weißt du, was du da tust? «
» Irgendjemand muss es ja tun, Matheus. Mach dir mal keine Sorgen. «
» Entschuldigung. « Matheus ging zu den Frauen zurück, die jetzt vor einer Art Ziegelsteinruine standen und redeten. Unten sah man die Hochhäuser von Copacabana, während sich über ihnen die endlose Masse ineinander verschachtelter Baracken erhob. Die Straße schlängelte sich den Hang hoch und wurde immer schmaler. Durch Spalten zwischen den einzelnen Hütten sah man das Meer. Motorräder mit Passagieren hinten drauf schossen an ihnen vorbei.
Irgendwann bedeutete Serena den anderen zu warten. Sie ging zu einer Gruppe von Jugendlichen, die vor einem Kiosk saßen, und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Nach ein paar Minuten kam sie wieder und lächelte Matheus an. » Lass uns weitergehen. «
Sie verließen die Hauptstraße und bogen in eine Gasse ein, die höchstens einen Meter breit war. Hierher drang kaum noch Sonnenlicht. Viele Haustüren standen offen, und auf den Stufen der Gasse saßen Frauen und unterhielten sich. Gelegentlich betrat Eliane eine der Hütten und stellte ein paar Fragen. Auch ein vierzehnjähriges Mädchen, das ihr erstes Kind erwartete, besuchte
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