Durst: Thriller (German Edition)
Menschenstrom ohne ein konkretes Ziel. Irgendwann betrat er die Buchhandlung Cultura. Seit längerem schon suchte er das Buch eines englischen Chemikers, das ihn während seines Studiums sehr beeindruckt hatte. Es war aber nicht da. Sicher würde er es in der Unibibliothek finden, tröstete er sich.
Matheus schlenderte noch eine Weile durch die Gegend, kaufte sich dann eine Zeitung, setzte sich in eine Bar, trank einen Kaffee und aß ein Stück Erdbeerkuchen. Als er an der Wand eine Uhr entdeckte, war es längst zu spät. Mit verschiedenen Bussen gelangte er zum Univiertel.
An einem Tag wie diesem war der Campus der USP ein angenehmer Anblick: der blaue Himmel, die weißen Gebäude, die gepflegten Gärten. Gelegentlich sah Matheus sogar ein bekanntes Gesicht. Dann stieg er zu den Büros im Rektorat hoch, wo ihn die Sekretärin bat, sich ein paar Minuten zu gedulden.
Kurz darauf erschien der Rektor an der Tür und bat ihn, Platz zu nehmen. Eine Weile ergingen sich die beiden Männer in Smalltalk, dann beschlossen sie, in einem Restaurant in der Nähe etwas zu essen. Das Gespräch verlief angenehm, und Matheus erhielt sämtliche Zusagen, die er sich erhofft hatte.
Nach dem Essen kehrten sie gemeinsam auf den Campus zurück und verabschiedeten sich mit Handschlag. Matheus machte sich auf den Weg zur Fachbibliothek Chemie. Als Erstes wollte er besagtes Buch auftreiben, dann würde er sich einen Internetzugang suchen und wieder mit der Welt in Kontakt treten. Irgendein Handy dudelte eine idiotische Melodie. Es dauerte eine Weile, bis Matheus begriff, dass es sein eigenes war. Er benutzte es nie, aber an diesem Morgen hatte Cássia ihn genötigt, es mitzunehmen.
» Ja? «
» Matheus, hier ist Sarah Clarice. « Sie klang angespannt.
» Ah, hallo. Alles okay? Ich habe am Freitag versucht, dich anzurufen. Wo warst du? «
» Und wo bist du? Ich versuche seit gestern Abend, dich anzurufen. «
» Ich bin in São Paulo. «
» In São Paulo? Was machst du denn in São Paulo? «
» Nun, ich hab auch noch ein Leben jenseits… «
» Matheus, hör zu. «
Er merkte, dass irgendetwas nicht stimmte.
» Was ist? «
» Nelson « , sagte sie.
Er sah plötzlich leicht verschwommen und kniff die Augen zusammen.
» Was? «
» Nelson ist verschwunden. «
» Was sagst du da? «
» Er ist seit Samstagmorgen verschwunden. Gestern Abend hat mich Sandra angerufen– keine Ahnung, wie sie meine Nummer herausbekommen hat. Sie hat versucht, dich zu erreichen, aber leider ohne Erfolg. Sie ist wirklich verzweifelt. Gestern hat die Polizei auf einer Straße außerhalb von Sobradinho den Passat gefunden. Von deinem Bruder allerdings keine Spur. Niemand hat ihn gesehen. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst. «
Zweiter Teil
Kobra
6
Carlos Alberto Bidaqui legte die Brille mit dem schmalen Goldrand auf den Schreibtisch und blinzelte. Er war todmüde. Bidaqui war einer dieser Leute, die man in Brasilien › Sonderberater ‹ nannte und die entweder für einen Minister, einen Richter des Obersten Gerichtshofs oder für den Vorsitzenden einer Senatskommission arbeiten. Auch der Präsident hatte seine eigenen, sorgfältig ausgewählten Sonderberater.
Wie so oft war die reguläre Arbeitszeit längst vorbei– wobei man fairerweise dazusagen musste, dass in seinem Vertrag gar keine Rede von Arbeitszeiten war. Mit seiner Unterschrift unter den Beschäftigungsvertrag tauschte ein Sonderberater sein altes Leben gegen eine aufreibende Doppelexistenz als Arbeitssklave und Schatten seines Vorgesetzten. Und je wichtiger dieser war, desto weniger Spielraum blieb dem Sonderberater. Nicht selten blieb sein Privatleben vollständig auf der Strecke. Bidaquis Chef, der Minister für Wissenschaft und Technik, war sehr wichtig, auch wenn das nur wenige wussten. Im Moment war der Chef nicht da, und Bidaqui musste ihn vertreten.
An dem ovalen Holztisch saßen mehrere Personen, aber seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Fernando Lemsky Soares, einen großen, hageren, finsteren Mann, der seit ein paar Monaten Leiter der CTNB io war, der brasilianischen Kommission für Biosicherheit.
Es ging um Routineangelegenheiten: einen Antrag von Monsanto auf Erteilung der Marktzulassung für ein transgenes Soja, das angeblich gegen einen neuen Parasiten resistent sein sollte; einen entsprechenden Antrag– ebenfalls von Monsanto– für eine transgene Maissorte, die gegen das wiederum von Monsanto hergestellte Pestizid Glyphosat resistent zu sein versprach; und
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