Durst: Thriller (German Edition)
aber auch Zeit! « Während er sprach, hielt er den Blick immer geradeaus gerichtet.
» Wunderbar « , bekräftigte Johannsen.
Antônio Netto sah, dass sein Chef in sich hineinlächelte, als er den Blick wieder in die Ferne richtete. Dieses stets perfekt gepflegte Gesicht kam dem Anwalt wie eine antike Medaille mit rätselhaften Inschriften und Symbolen vor. Ihm jedenfalls entzog sich ihre Bedeutung. Allerdings gab es im Leben und in den Geschäften von Paulo Henrique Johannsen auch Dinge, die er mit niemandem teilte. Seine Philosophie lautete, dass die Wahrheit etwas Subjektives war. Je weniger Spuren man hinterließ, desto vager war sie. Das war wie mit dem Sand in einer Sanduhr: Drehte man die Sanduhr um, verlagerte sich die Wahrheit und rutschte und floss und sammelte sich woanders wieder an. Die Sanduhr wiederum befand sich in der Hand der Mächtigen. Paulo Johannsen mochte dieses Bild.
Antônio Netto fiel auf, dass sein Chef plötzlich nachdenklich geworden war. Es war nicht Teil seines Jobs, Fragen zu stellen, die über die Arbeit hinausgingen. Dennoch nutzte er manchmal die Gelegenheit, diese Grenze vorsichtig zu überschreiten.
» Machen Sie sich Sorgen, Doktor? «
Johannsen schaute ihn überrascht an, als hätte man ihn auf frischer Tat ertappt. » Ja, vielleicht, Antônio. «
» Hat es mit dem morgigen Treffen zu tun? «
» Eher mit dem, was uns so weit gebracht hat. «
Netto schwieg. Irgendwann fragte er: » Sind Sie nicht überzeugt von der Sache? «
Johannsen schob die Lippe vor und richtete den Blick in die Ferne, aber nur für einen kurzen Moment.
» Normalerweise folge ich bei Geschäften meinem Instinkt. Dieses Mal habe ich eine Ausnahme gemacht. Eine große Ausnahme, muss ich zugeben. «
Netto lief ein Schauer über den Rücken. Vielleicht wusste er, worauf sein Chef hinauswollte, aber er war sich nicht sicher. Um nicht einfach schweigend dazusitzen, sagte er: » Manchmal führt uns der Instinkt allerdings auch auf die falsche Fährte. «
» Das stimmt, Antônio. In den meisten Fällen sagt er uns aber einfach die Wahrheit. Hoffen wir, dass es diesmal nicht so ist. « Johannsen lächelte und schlug einen anderen Ton an. » Alles okay in der Familie? «
» Nicht wirklich, Doktor. Wir haben uns getrennt. «
» Das tut mir leid. Wie kommt’s? «
» Es ging nicht mehr. Sie wissen ja, wie das ist. «
» Und dein Sohn? Ihr habt doch einen Sohn, oder? «
» Eine Tochter. Sie heißt Maia und ist jetzt sechs. Sie wird bei ihrer Mutter bleiben. «
» Das ist auch besser so « , sagte Johannsen. » Ich meine, die Mutter bleibt eben immer die Mutter. «
Der Anwalt sagte nichts. Er arbeitete zwanzig Stunden am Tag, manchmal auch vierundzwanzig. Es ist wirklich besser so, dachte er, aber der Gedanke hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Um ihn loszuwerden, stürzte er sich schnell wieder auf die Arbeit.
» Wissen Sie schon, wann er morgen kommt? «
» Gegen Mittag. Der Hubschrauber wird die Leute um zwölf abholen. «
» Es stimmt also, dass der Drache dabei ist? «
» Scheint so « , sagte Johannsen. » Ist alles gebührend vorbereitet? «
Rhetorische Frage, typisch für seinen Chef.
» Sie wohnen in einem unserer Gästehäuser in Vila Olímpia « , antwortete Netto. » Von dort werden sie direkt losfliegen. «
» Ich weiß, das organisiert alles Jessica. Sie ist meine beste Mitarbeiterin. «
» Sicher. «
Netto schluckte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Jessica Paes Leme leitete den Stab von Johannsens persönlichen Assistenten. Sie war dreißig und eine irritierende Mischung aus Topmodel und Intelligenzbestie. Außerdem verdiente sie fast so viel wie er.
» Ich hätte die Leute ja auf Ilhabela untergebracht, aber Jessica fand das nicht angemessen. «
» Aha? Warum? «
Johannsen kicherte. » Jessica behauptet, man müsse Geschäft und Gastfreundschaft strikt trennen. Was, wenn bei der Begegnung irgendetwas schiefgeht? Will man sie dann auch noch beim Abendessen am Hals haben? «
» Sicher. « Netto nickte grimmig. Aus dem Fenster sah man bereits die grünliche Küste und den kobaltblauen Ozean.
» Wir befinden uns im Sinkflug « , rief der Pilot. » In fünf Minuten erreichen wir Ihr Haus, Doktor. «
» Fantastisch « , sagte Johannsen. Plötzlich schlug seine Stimmung um. » Hoffen wir, dass meine Frau nicht so miserabel gelaunt ist wie sonst. « Dann lachte er wieder, aber sein Gesicht ließ keinerlei Freude erkennen.
Eine weiß emaillierte Dior-Brille
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