Durst: Thriller (German Edition)
verlängern. Sie würde noch bis zum Elevador Lacerda gehen, dem Aufzug zwischen Ober- und Unterstadt, von wo aus man das Meer sehen konnte. Danach würde sie dann aber wirklich heimkehren.
Sarah Clarice spürte, dass die jüngsten Ereignisse allesamt durch dünne Fäden miteinander verbunden waren, aber sie bekam keinen richtig zu packen. Auf dem kleinen Platz angelangt, wo die Bastion der alten Häuser unterbrochen wurde und den Ausblick auf Hafen und Strand freigab, setzte sich Sarah Clarice auf ein Mäuerchen und stellte ihren Einkaufsbeutel zwischen die Beine. Sie dachte an das Interview. Irgendetwas hatte da nicht gestimmt, aber sie konnte nicht genau benennen, was. Nachdenklich schaute sie aufs Meer. Die Fähre nach Bom Despacho zog unter dem bleiernen Himmel dahin und hinterließ eine weiße Schaumspur im Wasser. Plötzlich hatte Sarah Clarice die Nordsee vor Augen, das schiefergraue Meer von Bristol, das ihr Vater Keltische See nannte. Von der tropischen Transparenz des Ozeans zwischen Salvador und Itaparica war nichts mehr geblieben. In wenigen Minuten würde es regnen. Die Windböen schlugen ihr ins Gesicht, und sie fröstelte.
Das Klingeln ihres Handys riss Sarah Clarice aus den Gedanken. Der Name auf dem Display entlockte ihr eine Grimasse. Joyce. Sie fühlte sich versucht, das Gespräch anzunehmen, tat es dann aber doch nicht. Auf dem Display erschienen die Worte › unbeantworteter Anruf ‹ .
Sie erhob sich und hielt nach einem Taxi Ausschau. Mit der freien Hand winkte sie einen VW Santana herbei. Der Fahrer blieb sofort stehen. Als Sarah Clarice auf das Taxi zuschritt, hatte sie das Gefühl, plötzlich einen der unsichtbaren Fäden im Blick zu haben. Er war ihr unwillkürlich vor die Linse geraten, und sie hatte scharf gestellt. Jetzt wollte Sarah Clarice doch nicht mehr nach Hause. Sie nannte dem Taxifahrer die Adresse von Health Scanner. Es war Samstag, und im Büro würde niemand sein. Zumindest hoffte sie, dass niemand dort sein und auf sie warten würde.
» Was macht die denn da? Wieso steigt sie in ein Taxi? «
Der Mann auf dem Beifahrersitz zog an seiner Zigarette. » Vielleicht ist sie müde. «
» Was redest du da für einen Quatsch? Die fährt garantiert nicht nach Hause, die will woanders hin. Los, hinterher. «
Schweigend gehorchte der Mann. Der weiße Sandero rollte los. Hinter den abgedunkelten Scheiben sahen die beiden Männer das rote Taxi, das keine fünfzig Meter vor ihnen fuhr.
» Wo will die denn hin, hast du eine Vorstellung? «
» Nein, aber das Taxi fährt in Richtung Barra. «
» Folge ihm, aber unauffällig. «
Der Mann am Steuer warf ihm einen schiefen Blick zu, den der andere allerdings nicht bemerkte, weil er auf das Taxi starrte. » Los, mach schon, du darfst sie nicht verlieren. «
» Immer mit der Ruhe, wir verlieren sie schon nicht. Hast du heute noch Schicht? «
Der andere antwortete nicht.
» Hast du heute noch Schicht? «
» Ja, um sechs. Und du? «
» Heute nicht. Ich fang erst morgen wieder an, aber dann gleich zwei Tage hintereinander. Wir stehen am Ende von Ermittlungen. Vielleicht werden es auch drei Tage. «
Der andere warf ihm einen provozierenden Blick zu. » Lässt du dich immer noch in diesen Scheißdreck reinziehen? «
Der Mann am Steuer schwieg. Dann schüttelte er den Kopf. » Ihr vom Militär habt keine Ahnung. «
» Vergiss es. Was für Ermittlungen? «
» Es interessiert dich also doch… Interessante Ware. Etliche Kilo. «
» Ein Tipp? «
» Klar. «
» Crack? «
Der Zivilpolizist schnaubte. » Klar, etwas anderes ist ja nicht im Umlauf. Aber bei diesen Wahnsinnsmengen kann man immer ein paar Krümelchen mit nach Hause nehmen. «
» Bei uns gelingt das nur selten « , sagte der vom Militär. » Ich sollte vielleicht auch zu den Zivilen wechseln. Ihr werdet nicht so stark kontrolliert. «
Der Fahrer trat auf die Bremse, da sie an eine Ampel kamen. Das Taxi stand ganz in der Nähe. Der erste Regentropfen fiel auf die Heckscheibe, und Sarah Clarice’ Silhouette verlor an Schärfe.
Der Militärpolizist redete weiter. » Uns widmet man zu viel Aufmerksamkeit. Wir sind Schlachtvieh. «
» Das musste ja früher oder später kommen. «
» Klar, aber so geht das nicht. Jeden Tag knallen sie einen von uns auf die Titelseite, um ihr Gewissen zu beruhigen. Man behandelt uns schlimmer als Banditen. «
Der Mann am Steuer grinste.
» Ich weiß, was du denkst. Du denkst, dass wir genau das sind. Schlimmer als Banditen. «
Der andere
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