Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
Kopf zurück, so dass ich zur Bühne guck. Es tut weh, ich beiß die Zähne zusammen. »Lugh!«, brüll ich.
»Schnauze!«, sagt der Mann. »Wir werden ja hören, was die Himmelssprecherin über dich zu sagen hat.«
Nero stößt immer wieder auf die Männer runter und kreischt. Sie schlagen mit ihren Stöcken nach ihm. Sie werden ihn verletzen. Ihn töten.
»Nein, Nero, nein! Hau ab!«
Er segelt zu dem zerlumpten Zelt neben der Bühne und setzt sich obendrauf. Breitet die Flügel aus und kreischt. Unbehagen macht sich unter den Leuten breit. Krähen bringen den Tod. Das glauben jedenfalls viele Leute.
Der Todesengel und seine Krähe. In Hopetown haben alle Angst vor Nero gehabt. Wenn ich im Käfig gekämpft hab, hat er immer auf einem Lichtmast ganz in der Nähe zugeguckt. Ist erst weggeflogen, wenn ich gewonnen hatte. Die Leute haben geglaubt, ich hätte meine Kräfte von ihm.
Ein paar andere Männer schaffen Lugh, Emmi und Tommo nach vorn, nicht ohne Gegenwehr. Die Hände haben sie ihnen schon gefesselt. Ein paar wuchtige Stockschläge von hinten, und die Jungs knien, genau wie ich.
»Saba«, sagt Lugh, »alles in Ordnung?«
»Ja!« Em ist neben mir. »Hab keine Angst, Em.«
»Vor den Feiglingen da hab ich keine Angst«, sagt sie.
Der Wind heult. Donner kracht. Blitze zucken. Der Sturm kommt immer näher.
»Da!«, ruft Emmi.
Ein Junge in Emmis Alter kommt aus dem zerlumpten kleinen Zelt neben der Bühne. Er führt ein Mädchen an der Hand, hilft ihr die Stufen rauf.
Sie hat ein dunkles Tuch um die Augen gebunden, eine Augenbinde. Sie ist klein, hat zarte Knochen wie ein Vogel, ist vielleicht sechzehn Jahre alt. Sie trägt ein langes weißes Gewand. Nackte Füße, nackte Arme, nackte Beine. Und ihre Haut ist so weiß wie ein Wintermond. Ihre Haare sind von einem ganz hellen Feuerrot. Sie hängen ihr lose bis auf die Taille, wie lebendig, durchzogen von Federn und Perlen. An der Taille trägt sie ein Lederkästchen.
Der Junge huscht zur Seite und lässt sie in der Mitte der Bühne allein. Sie fängt an, auf ihrem Lederkästchen zu trommeln, schlägt mit den Händen einen Rhythmus an. Der Wind peitscht ihr das Gewand um die Beine. Fegt ihre Haare in einem wilden Tanz durch die Luft.
»Das ist die Himmelssprecherin!« Emmi muss schreien, damit wir sie hören können. »Sie wird dir helfen, Saba, das weiß ich! Deshalb hat Tracker uns hergebracht.«
Genau da kracht ein mächtiger Donnerschlag. Der Junge nimmt der Himmelssprecherin die Augenbinde ab. Sie trommelt immer wilder, grimmige Verzückung im Blick. Blitze bohren sich in den Boden. Nicht mal dreißig Schritt weg. Die Welt leuchtet auf. Ein heller blauweißer Blitz.
Die Himmelssprecherin zittert von Kopf bis Fuß. Ihre Augen verdrehen sich, und sie wedelt wie wild mit den Händen. Sie fängt an stammeln, ein endloser Strom von Lauten, keine Worte, die ich verstehen kann, vielleicht irgendein Kauderwelsch, das ich noch nie gehört hab.
Plötzlich fährt ein mächtiges Zucken durch ihren Körper und reißt sie hoch. Sie hebt das Gesicht zum sturmgepeitschten Himmel.
Der Mann, der mich an den Haaren festhält, lässt los. »Gleich spricht sie!«, brüllt er. Er hebt die Arme. Hält sie ganz hoch.
Die knienden Leute halten alle die Arme hoch. Sie gucken die Himmelssprecherin an, verzweifelte Hoffnung in den Gesichtern. Das Gewand der Himmelssprecherin bauscht sich. Jetzt peitscht uns Regen ins Gesicht. Ihr Kopf fährt zu mir rum. Sie guckt mich fest an, hier vorn vor aller Augen. Sie hat Augen wie Tracker. Ganz hellblau. Wolfshundaugen. Ich krieg eine Gänsehaut.
Der kleine Junge, der ihr auf die Bühne geholfen hat, stürzt zu ihr. Er folgt ihrem Blick und zeigt auf mich.
»Sie ist es!«, ruft er. »Die Himmelssprecherin hat sie ausgesucht! Bringt sie hoch!«
Donner grollt. Mein Bewacher schreit auf, er fummelt an meinen Handfesseln rum und ruft: »Schnell! Helft mir!« Im Nu haben er und zwei andere Männer mich auf die Bühne geschoben.
Da steh ich dann, nicht weit von der Himmelssprecherin weg. Guck sie an, so wie sie mich anguckt. Um uns rum zucken Blitze.
Sie fängt an zu sprechen, aber ich kann bei dem Getöse, das das Unwetter macht, nichts hören. Deshalb geh ich näher zu ihr, immer näher, bis ich direkt vor ihr steh. Sie packt meine Hände. Hält sie fest. Ihre Augen, ihre seltsamen hellen Augen, halten mich fest, aber ich glaub nicht, dass sie mich sieht. Ihre Pupillen sind kleine schwarze Punkte. Sie spricht schnell, stößt
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