Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
ist sie verschwunden. Ich bin kraftlos. Erschöpft. Benommen. Ich dreh den Kopf weg, damit ich ihn nicht ansehen muss.
Langsam steht er auf. Streckt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Dann stehen wir da. Er wischt sich mit dem Ärmel über die Nase.
Tränen laufen mir übers Gesicht. Er wischt sie weg, aber sie laufen immer weiter. Lautlos. Unaufhörlich. Sie spritzen in den Staub zu meinen Füßen. Aber ich wein doch gar nicht.
»Du musst nur noch ein Weilchen durchhalten«, sagt er. »Nur noch ein paar Wochen, dann sind wir am Großen Wasser und … und wenn wir da sind, wenn wir … drüben im Westen sind, wird alles wieder gut. Da draußen wartet so ein gutes Leben auf uns.«
Er stockt. Seine letzten Worte sind nur noch ein heiseres Flüstern. Wie wenn eine Geschichte zum letzten Mal erzählt wird. Und keiner da ist, der sie hört.
»Hab ich schon erzählt, wie die … ähm … ich sag dir, Saba, das Land da draußen ist so fruchtbar … du musst nur einen Stock in die Erde stecken, und am nächsten Tag steht da ein ausgewachsener Nussbaum, genau da, wo du den Stock reingesteckt hast. Wär das nicht ein wunderschöner Anblick? Wenn man das sieht, glaubt man, das wär ein Traum, oder? Das würdest du bestimmt gern sehen. Emmi und Tommo auch, wir würden … wir würden das alle gern sehen. Und das werden wir auch. Jawohl.«
Ich beobachte seine Lippen. Hör seine Worte. Seine Stimme klingt so gedämpft, als ob er unter Wasser wär. Er legt die Arme um mich. Klammert sich an mich. Er zittert am ganzen Körper.
»Egal was kaputt ist«, sagt er, »ich kann es in Ordnung bringen. Ich werd alles in Ordnung bringen. Ich versprech’s.«
D ie Gegend ist baumlos. Weißer Fels. Keine Wolken. Kein Schatten. Kein Schutz. Die Sonne brennt. Dörrt die Erde aus. Der Staub klebt uns hartnäckig an den Fersen.
Wir schleppen uns dahin, Hermes und ich. Wir reiten weit hinter den anderen. Ich starr auf meine Hände auf den Zügeln. Ich bin mehr als halb eingeschlafen. Meine Lider fühlen sich schwer an. Mein Kopf ist leer. Ich denk an nichts anderes mehr, als dass wir für immer durchs Ödland reiten werden.
Irgendwas schießt vor uns übern Weg. Direkt vor Hermes. Er bäumt sich auf und wiehert, die Vorderhufe schlagen hoch durch die Luft. Ich pack die Zügel, um nicht runterzufallen. Geräusche schlagen auf mich ein. Knallen mir in die Ohren. Machen mich wach.
Es ist ein blauäugiger Wolfshund. Mit einem runterhängenden Ohr. Er ist es. Tracker. Er ist hier.
Er stürzt sich auf Hermes. Hin und wieder weg. Hin und wieder weg. Hermes scheut und tänzelt und wiehert. Ich drück ihm die Knie fest in die Seiten. Halt die Zügel fest. Ich schaff’s so gerade eben, im Sattel zu bleiben. Weiter vorn hör ich Lugh brüllen: »Wolfshund!« Die drei machen hastig kehrt und galoppieren auf uns zu. Emmi schreit: »Tracker! Es ist Tracker!«
Er stürzt ein letztes Mal auf Hermes zu, und Hermes geht durch. In vollem Galopp rasen wir los, genau nach Norden. Ich lieg tief an seinem Hals und halt mich fest. Tracker jagt hinter uns her, ein schlanker grauer Streifen.
Er ist echt. Keine Einbildung. Kein Traum. Die anderen haben gebrüllt, Emmi hat seinen Namen gerufen, also ist er nicht nur in meinem Kopf.
Ich guck mich um. Er ist noch da.
Er hat uns gezwungen umzudrehen. Nein. Er hat mich dazu gezwungen. Er hat mich von unserem Weg nach Westen abgebracht. Absichtlich. Als ob er will, dass wir hier lang reiten. Und jetzt ist er mir auf den Fersen und sorgt dafür, dass ich die Richtung halte, bis ich da bin.
Wo immer das sein mag.
W ir stehen oben an einem Steilhang und gucken runter in ein breites flaches Tal. Trocken bis auf den Streifen Wasser, der mitten durchläuft. Wie eine dünne Schlange mit silberner Haut glitzert er in der Spätnachmittagssonne. Die letzte schläfrige Erinnerung an das, was mal ein mächtiger Fluss gewesen sein muss. Der Fluss hat einen geraden Abschnitt. An unserem Ufer stehen zwei Reihen mit bunt zusammengewürfelten Zelten, Tipis und Schlafschutzdächern aus Treibgut. Ein paar ziemlich große Pappeln geben ihnen Schatten. Ein Stückchen vom Lager entfernt qualmen drei Feuer, auf denen offenbar Leichen verbrannt werden.
»Mindestens vierzig Unterkünfte«, sagt Lugh. Er lässt den Weitgucker sinken. Männer und Frauen, Kinder und Hunde. Wer weiß, wie viele. Pferde, Kamele, Wagen.
»Was tun wir jetzt?«, fragt Tommo.
»Runtergehen natürlich«, sagt Emmi. »Was glaubt ihr denn, warum
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