Dying to Live: Vom Überleben unter Zombies (German Edition)
Boot zum Angeln rausfahren. Aber vorher bringe ich dich erst mal zu Milton. Ich bin mir sicher, du wirst bald feststellen, dass du bei ihm auch in gewisser Weise auftankst. Auf jeden Fall bringt er mich jedes Mal aufs Neue zum Nachdenken.«
Kapitel 6
Ich folgte Jack in den dritten Stock des Museums und zu einer Glastür am Ende eines Korridors, auf der »BIBLIOTHEK« stand. Miltons Zimmer befand sich in einer Ecke der Bibliothek; es hatte an zwei Seiten Fenster und war daher sehr hell. Wo es keine Fenster gab, waren Bücherregale in die Wände eingebaut, die alle voll waren. In dem Raum standen mehrere Tische mit Stühlen, an denen man in Ruhe lesen konnte. Milton saß lesend in einem bequemen Sessel; er erhob sich, um mich zu begrüßen.
Er war mittleren Alters, ungefähr Ende fünfzig, schätzte ich. Er war ebenso groß wie Jack, sah jedoch aus, als sei er schon immer schlank gewesen, auch vor diesem entbehrungsreichen Leben. Er trug weite Hosen und darüber einen merkwürdigen Umhang, eine Mischung aus Poncho und Kittel: Tatsächlich war es nur ein Stück Stoff, in das man ein Loch für seinen Kopf geschnitten hatte und das in der Taille mit einem Stück Seil zusammengebunden war. Sein Haar und sein Bart waren schlohweiß, aber nicht so ungepflegt wie bei den meisten anderen.
Insgesamt war er vermutlich der Einzige unter all den Menschen, die ich seit dem Ende der Welt gesehen hatte, von dem ich behaupten konnte, dass er würdevoll aussah, wenn auch nicht sonderlich beeindruckend oder geheimnisvoll. Ich schätze, ich hatte Yoda erwartet und Obi Wan bekommen.
Milton streckte mir zur Begrüßung die Hand hin. Er trug eine Omabrille mit Drahtgestell, und ich konnte mir ein Lächeln nur mit Mühe verkneifen; die einzigen Berühmtheiten mit einer solchen Brille, an die ich mich erinnern konnte, waren John Lennon und Heinrich Himmler: Auch wenn ich annehme, dass sich beide eines gewissen Charismas rühmen konnten, wirkte doch keiner der beiden Männer besonders auffällig oder einschüchternd, und Gleiches galt auch für Milton.
Irgendwie passte er aber zu unserer Apokalypse. Die Welt war schließlich auf völlig profane Weise untergegangen – hundsgewöhnliche Menschen fielen über ihre Nachbarn her und verwandelten sie so in ein Mitglied der hirnlosen, anonymen Meute. Vielleicht ergab es da ja in gewisser Weise Sinn, dass der neue Anführer oder Prophet der Apokalypse ein absolut durchschnittlich aussehender Typ war.
Aber dann dachte ich an Tanya und daran, wie unverbrüchlich sie Popcorn und Gott liebte – unerschütterlicher als jeder Theologe – und an die beherrschte Art, mit der sie den schrecklichen Tod ihrer Kinder akzeptiert hatte – stoisch wie ein griechischer Philosoph oder ein römischer Staatsmann – und mir wurde klar, dass Weisheit nichts Aristokratisches oder Exotisches an sich haben musste. Milton war eben, was er war, und wenn es ihm gelungen war, diese kleine Gemeinde zu führen, dann verlangte das meinen Respekt.
»Jonah Caine«, sagte Milton fröhlich. Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Wir haben alle viele unserer Brüder getötet, nicht wahr?«
»Ja, leider haben wir das«, erwiderte ich und wusste nicht recht, wie ich sonst auf die Anspielung auf meinen Nachnamen reagieren sollte.
Jack ergriff das Wort: »Milton, ich lass euch beide für eine Weile allein. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.«
»Gut, vielen Dank, Jack«, sagte Milton freundlich. »Freundlich« war ein Wort, das ihn gut beschrieb. Er schien mir eher gelassen und entspannt als guru-artig.
Als ich neben ihm saß, drang ein irgendwie fauliger Geruch an meine Nase. Es war der Geruch, an den wir uns alle im letzten Jahr gewöhnt hatten – der Geruch der Verwesung und des Verfalls, der entzündeten Infektionen und des lauernden Todes. Alle Fenster des Raumes waren geöffnet, und es wehte eine sanfte Brise herein, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er von draußen kam. Wir waren zu hoch oben, und aufgrund der Windrichtung war es unmöglich, dass er von der Vorderseite herüberwehte, an der wir am Tag zuvor all die Zombies bekämpft und verbrannt hatten, und außerdem roch es auch gar nicht nach Verbranntem. Tatsächlich hatte ich eher den Eindruck, dass die Fenster zum Lüften geöffnet worden waren, um den Geruch aus dem Inneren zu vertreiben.
Milton bemerkte mein Unbehagen. »Es tut mir leid, Mr. Caine, das kommt von meinem … Zustand. Ich werde es Ihnen später näher erklären, wenn es
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