Dylan & Gray
ich so lange blickdicht verhängt hatte.
Mehrere Stunden sitzen wir in unserem imaginären Wohnzimmer und es fühlt sich schon ganz wie zu Hause an. Schließlich stehe ich auf und greife nach Dylans Hand, um sie hochzuziehen. Stumm gehen wir nebeneinander zum Wagen zurück. Während der Heimfahrt bin ich in Gedanken noch immer bei Amanda und der Nacht, als die Polizei bei uns anrief. Der Weg zum Krankenhaus in Flagstaff, wo meine Schwester sterbend auf der Intensivstation lag, war die längste Autofahrt meines Lebens. Ich habe mich immer gefragt, was ihr in dieser Zeit wohl durch den Kopf ging. Ob sie Schmerzen hatte, ob sie sich fürchtete, ob sie überhaupt bei Bewusstsein war. Was denkt man, direkt bevor man stirbt?
Wir konnten uns nicht mehr verabschieden. Und ein Teil von mir ist mit ihr gestorben.
Dylan dreht das Radio leiser und schaut zu mir herüber.
»Morgen ist Sonntag«, sagt sie mit einer Stimme, die wie immer vor Energie sprüht. Ich warte darauf, was als Nächstes kommt.
»Ich habe eine Idee«, verkündet sie.
»Hast du immer«, sage ich.
»Wir könnten morgen einen Feiertag für deine Schwester einlegen. Du zeigst mir alle Plätze in der Stadt, die sie am liebsten mochte. Wo sie ihre Freizeit verbracht hat, wo sie zum Shoppen und zum Essen hingegangen ist … Ein ganzer Tag zu Ehren von Amanda. Ich will Fotos sehen und jede Menge Storys hören. Was hältst du davon?«
Ich starre sie an. »Wieso?«
»Weil du sie geliebt hast. Um Amandas Andenken unter die Leute zu bringen.«
Ich schaue aus dem Fenster und denke darüber nach. Die letzten acht Monate habe ich alle Straßen gemieden, durch die wir zusammen gefahren sind. Ich bin Plätzen und Menschen ausgewichen, weil sie die Vergangenheit aufwühlten und mir den Magen umdrehten.
»Das brauchst du nicht für mich zu tun.«
»Will ich aber. Gleich morgen früh starten wir. Wohin sollten wir zum Frühstücken gehen?«
Die Erinnerung bringt mich zum Lächeln.
»Tommys Café. Das liegt in Mesa«, sage ich. »Ein total billiger Schuppen, aber dort gibt es die besten Pfannkuchen mit Fleischsoße in der ganzen Gegend.«
»Ich hole dich um acht ab.«
»Acht Uhr morgens?«
Sie ignoriert meinen langschläferigen Protest. »Wir haben eine Menge vor. Fang schon mal an, eine Liste zu schreiben.«
Als sie mich zu Hause absetzt und ich aus dem Wagen steige, fühle ich mich ganz schwerelos. Zum ersten Mal seit Jahren glaube ich an ein Leben nach dem Tod.
***
Ich versuche zu schlafen, aber in meinem Schädel rumoren zu viele Gedanken. Am liebsten würde ich sie mit irgendeinem Trick zur Ruhe bringen, damit ich endlich schlafen kann, aber sie sind widerspenstig. Vor allem kreisen sie um ein gewisses Mädchen.
Was passiert gerade zwischen mir und Dylan? Sie stellt wie immer alles auf den Kopf. Mit einem gewöhnlichen, altmodischen Date würde ich zurechtkommen, aber das besteht normalerweise nicht daraus, tote Verwandte zu feiern. Darunter leidet nämlich die Romantik. Also stellt sich die Frage, ob wir überhaupt ein Date haben.
Ich bin nicht gerade ein Experte in Beziehungsfragen. Trotzdem sagt mir meine Erfahrung, dass die Annäherung zwischen zwei Teenagern eigentlich gewisse (schmerzhaft peinliche) Phasen durchläuft: Man starrt heimlich ihren Körper an. Man wird erwischt und sie starrt genauso interessiert zurück. Man stellt sie sich nackt vor. Sie redet davon, dass die »Chemie stimmt«. Dann folgt die Phase, in der man gegenseitig abcheckt, ob man zueinanderpasst. Durch Small Talk in den Pausen, nach der Schule oder während des Jobs versucht man, sich kennenzulernen und unterschwelliges Interesse zu zeigen. Dabei darf man bloß nicht zu deutlich werden. Es gilt, einen Hauch von mysteriöser Unnahbarkeit zu bewahren. Denn wenn man sich zu sehr ins Zeug legt, wird man gleich als notgeiler Stalker abgestempelt … Noch vernichtender wäre höchstens ein Image als Serienkiller. Also gilt es, ein sorgfältiges Gleichgewicht zu bewahren. Und so ähneln die ersten Wochen einem Drahtseilakt.
Man geht auf Nummer sicher, schickt ab und zu eine geistreiche SMS und hat nur noch vorteilhafte Fotos im Online-Profil: Schnappschüsse vom Freeclimbing (= abenteuerlustig und athletisch), vom Brettspiel mit Oma (= gutmütig und unkompliziert) und mit möglichst vielen Freunden (= total beliebt). Diese virtuelle Diashow lässt nur einen Schluss zu – du bist ein echt guter Fang. Erst wenn das Mädchen deiner Träume zu diesem Ergebnis gekommen ist, lässt du
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