Dylan & Gray
dich öfter blicken, um Zeit mit ihr zu verbringen. Dabei zeigst du ihr nach und nach deine exzentrischen Seiten und kleinen Ticks. Und das ist gewöhnlich der Zeitpunkt, an dem alles in die Grütze geht. Amanda nannte das den Moment der schweißfußigen Wahrheit.
In dieses normale Schema passt meine Beziehung zu Dylan kein bisschen. Noch immer habe ich nicht einmal ihre Telefonnummer. Aber ich verbringe die halbe Nacht mit dem Gedanken, sie zu küssen. Wie würde sie reagieren? Wann ist der beste Zeitpunkt, es zu versuchen?
Dabei habe ich keine Ahnung, ob sie überhaupt von mir geküsst werden will. Sie hält meine Hand und nennt mich süß, aber das machen Mädchen auch untereinander (und ehrlich gesagt finde ich das ziemlich heiß). Also, wie stuft Dylan mich ein? Bin ich nur eine Art Bruder für sie? Bloß das nicht! Vielleicht hat sie mich auf dem Campus aufgelesen, weil sie einen guten Kumpel wollte, einen Komplizen bei ihren verrückten Ideen? Sie flirtet nicht wirklich mit mir. Zwar berührt sie mich oft, aber dabei starrt sie mich nie mit diesem träumerisch-liebeskranken Blick an, den Mädchen aufsetzen, wenn sie geküsst werden wollen.
Heute habe ich versucht, ihre Körpersprache zu analysieren. Ich lehnte mich immer näher an Dylan heran und beobachtete, was passiert. Diese Flirttaktik nenne ich das Anschmiegspiel. Ich habe mal so eine bescheuerte Theorie gehört, dass es ein Zeichen von Zuneigung ist, wenn das Mädchen sich im Sitzen unbewusst zu einem neigt und ihre Schultern oder die übergeschlagenen Beine in die Richtung ihres Gegenübers zeigen. Aber Dylan sitzt nie lange genug still. Meine Versuche haben nur bewiesen, dass sie hyperaktiv ist.
Ich bin sicher, dass ich mich an dem kritischen Punkt befinde, wo eine einzige verpasste Chance bedeutet, dass ich mich in der Schublade »Lass uns gute Freunde bleiben« wiederfinde. Wenn man dort einmal gelandet ist, kommt man nie wieder raus. Ein absoluter Albtraum. Schon viele Eroberungen sind kläglich daran gescheitert.
Aber wie soll ich für romantische Stimmung sorgen, wenn Dylan ein medaillenreifes Talent hat, sich die schrägsten Dates aller Zeiten auszudenken?
E rstes Vertrauen
Dylan
Um 8:01 Uhr biege ich in seine Auffahrt ein und habe noch nicht einmal den Motor abgestellt, als auch schon die Tür aufgeht. Gray erscheint in seinem üblichen Outfit, bestehend aus T-Shirt, kurzer Hose und Flip-Flops. Ich stecke den Kopf aus dem Autofenster und betrachte ihn stirnrunzelnd.
»Du hast was vergessen«, lasse ich ihn wissen. Er nimmt an, dass ich auf die fehlende Baseballkappe anspiele. Mit einem Schulterzucken kämmt er sich durch die Haare, die aber jedem Kontrollversuch widerstehen und weiterhin nach zotteligem Flokati aussehen. Finde ich niedlich. Ich stelle den Motor ab und springe aus dem Wagen. Gray blinzelt mit müden Lidern und behauptet, ich hätte entschieden zu viel Energie für diese Uhrzeit.
»Wo sind die Fotos?«, will ich wissen. Er blickt auf seine leeren Hände.
»Das hast du ernst gemeint?«, fragt er.
Ich stütze die Hände in die Hüften und meine störrische Miene sagt mehr als tausend Worte.
Energisch schiebe ich ihn zurück ins Haus. Ich folge ihm ins Souterrain, wo er um eine Flurecke biegt und das Licht in seinem Zimmer anschaltet. Gray erklärt, dass er nach Amandas Tod sämtliche Fotos zusammengepackt hat, auf denen sie zu sehen war. Er hat den Karton in seinem Schrank verschwinden lassen und nie wieder angerührt. Nun öffnet er die Schranktür und wühlt in der hintersten Ecke nach seinen Erinnerungen.
Währenddessen schaue ich mich im Zimmer um. Ein Geruch von Reinlichkeit liegt in der Luft, als sei gerade erst gestaubsaugt worden. In einer Ecke steht Grays Bett mit einer zerwühlten dunkelblauen Decke und zerknautschten Kissen. Auch das Bettlaken ist losgestrampelt und zu einem Ball zusammengeknüllt. Anscheinend ist Gray ein unruhiger Schläfer. Falls er überhaupt schläft. Auf dem Teppich liegen ein paar Kleidungsstücke herum. Zwei Gitarren lehnen in einer Ecke, umgeben von CD -Stapeln. Als Deko sind Sporttrikots und ein paar Konzertposter an die Wände gepinnt.
Das Bücherregal fällt mir ins Auge, weil darin kein einziges Buch zu finden ist – sondern lauter Medaillen, Pokale und Trophäen. Gray stellt sich neben mich und wirkt ein bisschen verlegen.
»Okay, sieht aus wie ein Schrein für mein Ego«, gibt er zu. Wir beide betrachten die glänzenden Goldfiguren auf ihren Miniaturpodesten aus Holz und
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