Dylan & Gray
Marmor. Winzige Heldengestalten. Goldene Momente. Es müssen mindestens hundert sein. Ich lese einige der Aufschriften. Ein Teil ist für den besten Spieler des Jahres und für Erfolge auf der Batter-Position, aber die meisten Trophäen hat er als Werfer geholt.
»Mir war nicht klar, wie viel dir Baseball bedeutet«, meine ich.
»Vielleicht wird es Zeit, dass ich den Kram wegpacke«, sagt er hart. »Die Highschool ist vorbei und ich muss an die Zukunft denken.«
Aber mir ist klar, dass mehr dahintersteckt. Dieses Regal ist eine Erinnerung an seine besten Zeiten, seine Jahre des Ruhms – doch gleichzeitig erinnert es ihn an die Träume, die er aufgegeben hat.
»Ich finde, Trophäen werden aus ganz falschen Gründen vergeben«, sage ich. »Man sollte Leute dafür auszeichnen, dass sie die beste Sockensammlung haben oder besonders gut knuddeln können.« Außerdem schlage ich vor, einen Preis an den nettesten Typen der Stadt zu verleihen. Gray runzelt die Stirn und behauptet, kein Mann würde freiwillig eine Medaille für »Nettigkeit« annehmen.
Er stellt einen braunen Schuhkarton aufs Bett und ich hebe den Deckel hoch. Das Foto ganz oben lässt mich zusammenzucken, denn es ist ein Schwarz-Weiß-Portät, durch dessen Stirn man ein Loch gestochen und einen Faden gezogen hat. Gray erklärt, dass seine Cousins das Bild beim Begräbnis um den Hals getragen haben. Amanda sieht Gray sehr ähnlich. Sie hat die gleichen dunklen Haare, allerdings glatt statt lockig, und das gleiche breite Grinsen, das einen sofort gefangen nimmt.
Mir fällt es schwer, ihre Augen anzusehen. In ihnen ist so viel Leben. Ich nehme ein weiteres aufgefädeltes Amanda-Porträt und überreiche es Gray.
»Das passt perfekt«, sage ich und ziehe mir das erste Foto über den Kopf. Er starrt darauf und seine Augen verschleiern sich für einen Moment. Bevor er widersprechen kann, hänge ich ihm das andere Porträt um, und Gray seufzt, als könne er kaum glauben, dass er bei dieser Aktion mitmacht. Er zieht einen Umschlag voller Fotos aus dem Karton und ich greife nach seiner freien Hand, um ihn aus der Tür zu ziehen.
***
Wir beginnen unseren Ausflug bei Tommys Café und bestellen das berühmte Frühstücks-Special »Pfannkuchen mit Fleischsoße«. Einen Bissen widmen wir beide Amanda. Zwar ist keiner von uns ein großer Kaffeetrinker, aber Grays Schwester war es schon, also schütten wir zwei Tassen Aufputschmittel in uns hinein. Dadurch wird Gray so zappelig, dass er gar nicht mehr aufhören kann, mit den Füßen auf den Boden zu trommeln. Ich beteilige mich, indem ich mit meinem Besteck das Schlagzeugsolo von Wipeout zu spielen versuche, bis die genervten Blicke des gesamten Personals uns darauf aufmerksam machen, dass wir uns unmöglich benehmen.
Also setze ich mich auf die Tischseite neben Gray und er erzählt mir eine Geschichte zu jedem einzelnen Foto. Viele zeigen Weihnachten mit der Großfamilie. Bis letztes Jahr gehörte es zur Tradition, dass alle Verwandten in Phoenix zusammenkamen und am Festtag eine kleine Bühnenshow aufführten. Stolz präsentiert er mir die Bilder der schwarzen Komödie Pulp Christmas über eine Familie im weihnachtlichen Drogenrausch, die er mit Amanda und zwei Kusinen geschrieben hat und die zum besten Stück des Abends gekürt wurde. Wir betrachten Bilder von der Band, die Gray und seine Schwester zusammen gegründet haben … er als Gitarrist, Amanda als Sängerin mit Tamburin und die beiden Nachbarjungen mit Bongo und E-Bass. Sie nannten sich »Lucky Dogs« und spielten vor allem Comedysongs von Adam Sandler im Hippie-Sound.
Dann erzählt mir Gray eine seiner Lieblingsstorys von Amanda. In der zehnten Klasse wollte sie einen Tag lang ausprobieren, wie man im Alltag zurechtkommt, wenn man keine Arme hat. Als neue Lebenserfahrung. Gray gab zu bedenken, dass niemand die Erfahrung braucht, einen schweren Geburtsfehler zu haben. Sie hielt dagegen, dass man jeden Tag das Pech haben könnte, seine Arme zu verlieren. Außerdem könnte man dadurch schätzen lernen, was man hat.
Also ließ sie sich von ihrer Mutter beim Anziehen helfen und die Zähne putzen. Gray fütterte sie mit Frühstück, fuhr sie zur Schule und trug ihre Tasche. Ihre Freunde waren für das Mittagessen zuständig und schleppten ihre Schulbücher von einem Klassenraum zum anderen. Sie musste nichts mitschreiben und bekam keine Hausaufgaben auf. Unfair!
Nach dem Unterricht ging sie zum Training mit ihrem Leichtathletik-Team, hielt aber beim
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