Dylan & Gray
Eltern gilt das bestimmt auch. Vielleicht könntet ihr zu dritt hingehen.«
»Was kann ein Therapeut schon machen? Uns erzählen, wir sollen ein Traumtagebuch führen und unser inneres Kind finden?«
»Nein.«
»Oder eine schwere Trauerstörung diagnostizieren, die sich am besten mit einer Flasche Glückspillen heilen lässt? Vielen Dank auch.«
Ich muss mich anstrengen, weiterhin ruhig zu bleiben, als ich ihm in die Augen schaue: »Sich professionelle Hilfe zu holen, ist kein Zeichen von Schwäche. Oder von totaler Verzweiflung. Dein Problem ist, dass du ein viel zu großes Drama daraus machst.«
»Ja, schon gut. Können wir jetzt das Thema wechseln?«
»In Wirklichkeit wäre es nicht nur mutig, deine Eltern zur Therapie zu begleiten, sondern auch das Selbstloseste, was du tun kannst«, fahre ich fort. »Hast du darüber schon mal nachgedacht? Wenn du sie so sehr liebst, dass du dich nach dem Unfall für sie verantwortlich gefühlt hast, solltest du sie jetzt nicht im Stich lassen. Hier dreht es sich um mehr als nur um dich.«
Da fängt er wieder an, mir ins Gesicht zu schreien. »Was weißt du schon darüber? Du hast doch keine Ahnung, wie es uns geht! Ich lasse bestimmt keinen Seelenklempner in meinen Gefühlen rumwühlen, für den ich nur eine x-beliebige Tragödie bin. Mal wieder ein Teenager, der seine Schwester verloren hat. Noch eine Familie, die mit dem Tod nicht klarkommt. Aber hier geht es nicht um irgendeine Person.«
Er haut mit der Faust gegen das Armaturenbrett.
»Wir reden von meiner Schwester«, schreit er. »Wir reden von Amanda! Mein Leben wird nie wieder sein wie früher. Ich brauche mir nicht von einem Wildfremden anzuhören, dass man loslassen und an die Zukunft denken muss. Wenn du Amanda gekannt hättest … dann würdest du kapieren, warum das nicht geht.«
»Erklär mir, warum«, sage ich.
»Weil sie es verdient hat, dass wir alle sie vermissen. Jeden Tag. Auch wenn wir den Schmerz kaum aushalten. Sie hat es verdient.«
Meine Kehle fühlt sich ganz eng an und es fällt mir schwer, luftzuholen. »Okay, das nächste sage ich nur ein einziges Mal, weil ich dich liebe und glaube, dass du es hören musst.«
Ich schaue in seine Richtung, aber er hat den Kopf stur geradeaus gewandt. Sein Kiefer ist angespannt und seine Augen sind geschlossen.
»Du musst dein eigenes Leben leben, Gray. Du kannst dich nicht weiter an der Vergangenheit festhalten. Deine Schwester kommt nicht mehr zurück. Niemand verlangt, dass du sie vergisst«, sage ich, »aber Amanda ist gestorben … und du nicht.«
Gray sagt, wenn ich nicht sofort den Mund halte, schlägt er die Faust durchs Autofenster.
»Klar, wie du willst.« Meine Stimme ist ganz heiser. Ich beiße mir auf die Lippen, damit sie aufhören zu zittern, und schaue starr auf den Mittelstreifen der Straße vor mir.
Gray dreht die Musik auf und zieht sich die Kapuze seines Sweatshirts ins Gesicht. Sie blockt alles ab, was er nicht sehen oder hören will, und wie am Anfang versucht er, völlig darin zu verschwinden.
E rstes Vergeben und Vergessen
Gray
Mir geht es bestens.
Aber ich kann meine Gedanken einfach nicht abstellen. Selbst sechs Stunden später gelingt mir das nicht.
Dabei geht es mir wirklich bestens.
Warum musste sie ausgerechnet damit anfangen? Wir hatten einen fantastischen Tag. Einen fantastischen Sommer. Und sie sucht sich den einzigen wunden Punkt aus, bei dem ich garantiert wild um mich schlage. Ich weiß, dass ich ihr wehgetan habe. Man konnte es an ihrer Stimme hören. Dabei hat sie nur gesagt, was nötig war, auch wenn ich es nicht hören wollte. Sie war um mich besorgt. Ich bin so ein Idiot.
Aber mir geht es bestens.
Ich rolle mich im Bett herum und starre aus dem Fenster. Man kann den Mond am Himmel stehen sehen. Friedlich und ganz weit weg. Da oben möchte ich auch gerne sein. Jetzt sind es schon sechs Stunden seit unserem Streit. Ich vermisse Dylan. Normalerweise würde sie sich um diese Zeit an mich kuscheln. Mein Bett fühlt sich zu groß an, um allein darin zu liegen. Es scheint mich regelrecht zu verschlucken.
Ich richte mich auf und strampele die Decke weg. Dann ziehe ich eine kurze Hose über meine Boxershorts und schlüpfe in ein Paar Flipflops. Ich gehe in die wüstenheiße Nacht hinaus. Es dürften immer noch fast vierzig Grad sein, selbst um drei Uhr morgens. Das trockene Gras knistert wie Stroh unter meinen Sandalen.
Die Straßen, durch die ich zu ihr fahre, sind dunkel und verlassen. The Killers dröhnen
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