Dylan & Gray
übernommen. Ich habe bisher nie versucht, mich gegen sie durchzusetzen. In meiner Familie sind Auseinandersetzungen nicht üblich. Als Kind zeigt man Respekt und gehorcht. Eltern sind Autoritätspersonen, die man nicht infrage stellt. Aber bisher hatte ich ja auch immer Amanda. Bei ihr konnte ich meinen Ärger rauslassen, wenn mir etwas nicht passte. Sie war meine Familie. Amanda hat eine Atmosphäre von Lebendigkeit um sich verbreitet, die überhaupt erst eine Verbindung zwischen mir und meinen Eltern schuf. Ohne sie verdorrt unsere Familie wie eine Topfpflanze, der man die Wurzel abgerissen hat.
Mein Vater lässt die Zeitung sinken. Er verschränkt die Arme und fragt, was plötzlich in mich gefahren ist.
»Ich will wieder Baseball spielen«, sage ich. Dann wiederhole ich mein Telefongespräch mit Coach Clark und liste die Gründe auf, warum ich sein Angebot annehmen will. Ich sage, dass ich mir nie verzeihen könnte, wenn ich ein zweites Mal ablehne.
Mein Vater schweigt. Meine Mutter schaut skeptisch. Eine quälende Minute vergeht, bevor jemand den Mund aufmacht.
»Du hast ziemlich lange nicht gespielt«, sagt Mom.
Ich sage, dass es mir nicht nur um Baseball geht. Ich will mein Leben zurück. Zur Uni gehen. Neu anfangen. Wieder eine Zukunft haben.
»Das kommt von dem Mädchen, dem du neuerdings nachläufst, oder?«, sagt Dad. »Sie zieht weg und du willst ihr folgen.«
Ich kann nur ungläubig den Kopf schütteln. Dann sage ich, dass ich schließlich ein Stipendium habe. Natürlich will ich die Chance nutzen. Was ist daran so schwer zu verstehen? Vorsichtshalber verschweige ich, dass ich Dylan tatsächlich bitten will, mit mir nach Albuquerque zu kommen. Ich bin ziemlich sicher, dass sie zustimmt.
Meine Mutter sagt, dass ich mir die Sache zu leicht vorstelle. Meine Probleme werden sich nicht von selbst lösen, nur weil ich vor ihnen nach New Mexico flüchte. Ich presse die Lippen aufeinander und bin heilfroh, dass Dylan auch diese Situation mit mir geübt hat. Sie hat schon geahnt, dass meine Mutter die Nerven verlieren und mir vorwerfen würde, ich wolle davonlaufen. Lieber soll ich mit Mom zusammen unglücklich sein, als sie mit ihrem Leid allein zu lassen. Trauer macht egoistisch. Als Dylan das Flucht-Argument ausprobiert hat, habe ich als Antwort die Faust gegen die Wand geschlagen. Diesmal reagiere ich etwas erwachsener.
Ich lasse meine Eltern wissen, dass ich mich nicht vor meinen Problemen drücken will und genau weiß, wie schwer es werden wird. Dann atme ich tief durch und stehe von der Couch auf.
»Ich habe nicht vor, euch um Erlaubnis zu bitten«, sage ich. »Meine Entscheidung steht fest.« Beide starren mich an. Mein Vater runzelt die Stirn und meine Mutter fängt an zu weinen.
»Aber mir würde es unheimlich viel bedeuten, wenn ich wüsste, dass ich eure Unterstützung habe«, füge ich hinzu. »Und ich bin sicher, dass ich nur tue, was Amanda sich von mir gewünscht hätte.«
Beide schweigen. Da rücke ich mit meiner letzten Forderung heraus.
»Ich will, dass wir zusammen zur Familientherapie gehen, bevor ich wegziehe«, sage ich und klatsche einen Zettel auf den Tisch. Er enthält die Adressen der drei Spezialisten, die mich bei meiner Recherche am meisten überzeugt haben. Dann warte ich ab, ohne mich zu rühren. Stumm wiederhole ich immer wieder, dass ich das Richtige tue. Jemand in unserer Familie muss den Mut aufbringen, etwas zu verändern.
Meine Mutter mustert den Zettel wie ein giftiges Insekt, das sie am liebsten zu Brei treten würde. Noch vor ein paar Tagen hätte ich genauso reagiert. Mein Vater starrt mit versteinerter Miene und leerem Blick zu Boden. Wenigstens schreien wir uns nicht an. Ich gehe aus dem Zimmer, weil ich nachfühlen kann, was sie jetzt brauchen. Nämlich dasselbe, was ich nach Dylans überraschender Attacke nötig hatte: Zeit.
***
Wir hocken auf dem Betonfundament der unfertigen Villa am Camelback Mountain. Hierher sind wir schon öfter zurückgekehrt, um den Blick aus unserem Speisesalon zu genießen, bevor er in einen Fitnessraum für einen Profi der Arizona Cardinals oder der Diamondbacks verwandelt wird. (So lautet unsere aktuelle Vermutung, wem das Baugrundstück gehört.) Heute Abend haben wir uns eine Picknickdecke mitgebracht, die wir auf dem Beton ausbreiten. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass unsere gemeinsamen Tage immer weniger werden, sondern konzentriere mich auf nützlichere Dinge – zum Beispiel eine Idee, wie ich Dylan dazu
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