Dylan & Gray
sich nämlich kaum an ihn erinnert. Sie war vier, als er abgehauen ist. Vor ein paar Jahren hat er sich bei ihr gemeldet. Er hat gesagt, wie leid es ihm tut und dass er wieder ein Teil der Familie werden möchte. Er habe endlich mit dem Trinken aufgehört und beschlossen, für sie und ihre Schwester da zu sein. Das war sein einziger Anruf. Danach hat sie nie wieder etwas von ihm gehört. Aber Dylan behauptet mit einem Schulterzucken, das sei schon okay. Ihre Mutter hat wieder geheiratet und der neue Mann war als Vater einfach perfekt.
Sie sagt, dass sie mit dem Thema nur angefangen hat, weil sie immer so beeindruckt davon war, wie ihre Mutter sich durchgekämpft hat, nachdem sie sitzen gelassen wurde. Daraus hat Dylan gelernt, dass man bei Schicksalsschlägen zwei Möglichkeiten hat: Man kann sich als hilfloses Opfer fühlen und einfach aufgeben. Oder man kann hoffen, dass sich das Durchhalten lohnt, weil das Leben bestimmt noch wundervolle Überraschungen bereithält.
»Meine Mom hat die Zähne zusammengebissen und es überlebt«, sagt Dylan. »Klar war sie wütend und hat sich Vorwürfe gemacht, weil sie den Kerl überhaupt geheiratet hat. Aber mit Selbstmitleid hat sie sich nicht lange aufgehalten. Sie hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und sich auf die Zukunft konzentriert. Genauso gut hätte sie eine verbitterte Single-Mom werden können, die ihren Töchtern beibringt, nicht an Liebe und Familie zu glauben, weil man doch nur verraten und verletzt wird. Aber auf die Idee ist sie nie gekommen.«
Dylan meint, wenn man sich als Opfer betrachtet, kommt man im Leben nicht weit.
»Aber so bist du ja nicht«, fügt sie hinzu.
»Woher willst du das wissen?«, frage ich.
Sie zuckt mit den Schultern. »Weil du mir erlaubt hast, an dich ranzukommen.«
Ich nicke und greife nach ihrer Hand. Dylan lehnt den Kopf auf meine Schulter, und zusammen schauen wir zu, wie die Sonne über den Horizont kriecht und den Himmel über uns zum Leuchten bringt. Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal zu verstehen, warum sich Dylan wie ein sonderbarer Schutzengel in mein Leben verirrt hat. Und ich beginne sogar zu glauben, dass ich sie verdient habe.
E rste Konfrontation
Gray
Ich entdecke meine Eltern im Wohnzimmer. Seit Monaten habe ich sie nicht mehr zusammen im selben Raum gesehen. Also denke ich: jetzt oder nie! Ich marschiere hinein und stelle mich zwischen ihnen auf. Mein Dad sitzt im Sessel und versteckt sich hinter seiner Zeitung, Mom zensiert Schulaufsätze. Im Fernsehen laufen die Lokalnachrichten. Eine verschwundene Studentin, die vermutlich in Tempe entführt wurde, fünf pleite gegangene Läden in Phoenix … So etwas hebt doch gleich die Stimmung.
Dylan und ich haben die Szene geprobt. Sie hat die Rolle meiner Eltern übernommen und mir verschiedene Möglichkeiten vorgespielt. Mal war sie wütend, mal verletzt, dann misstrauisch oder hysterisch. Sie hat mich stundenlang üben lassen.
Ich setze mich auf die Couch, die gegenüber meiner Mom und schräg von meinem Dad steht, sodass wir eine Art schräges Dreieck bilden. Dann warte ich ab, ob mich jemand bemerkt. Aber das geschieht nicht. Ich betrachte das Gesicht meines Vaters, das ein Stück über den Zeitungsrand schaut. Er hat zugenommen, seit Amanda gestorben ist. Mehr Dienstreisen, also auch mehr Fast Food. Seine Haare sind dünner geworden und haben graue Strähnen bekommen. Mom dagegen ist dünner als früher. Ihr Gesicht wirkt ausgemergelt, die Haut ist fahl. Mir wird klar, dass wir alle unbemerkt vor uns hin gestorben sind.
Dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Warum bin ich eigentlich hier und verzichte auf mein eigenes Leben, wenn sie mich nicht einmal sehen? Dylan hat recht. Damit helfe ich absolut niemandem. Mein Herz schlägt schneller und pumpt Zivilcourage durch meine Adern.
Ich räuspere mich, und als sie zu mir aufschauen, mache ich den Mund auf und lasse die Worte einfach heraus. Ich erzähle ihnen alles. Ich verlange, dass wir zusammen zur Therapie gehen, weil ich es satt habe, im Schatten von Amandas Tod zu leben. Ständig hängen die Erinnerungen wie ein Schleier über uns, und wir benutzen sie, um uns vor der Welt zu verstecken. Amanda hätte bestimmt nicht gewollt, dass wir uns zu ihren Ehren benehmen, als würden wir selbst am Rand des Grabes stehen. Meine Schwester ist tot, aber wir sind am Leben, also wird es Zeit, dass wir uns auch so verhalten.
Beide starren mich an, als habe ein fremdes Wesen den Körper ihres Sohnes
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