Dystopia
ein, um sich neben ihn zu setzen.
«Wie ist es Ihnen gelungen, Ihre Leute zu dieser Aktion zu überreden?», fragte Travis.
«Ich habe ihnen die Wahrheit erzählt.»
«Und sie haben Ihnen geglaubt?»
Garner nickte. «Zwei von ihnen haben früher Dienst in auswärtigen Tangent-Zweigstellen getan. Außerdem war diese Erklärung für sie leichter zu schlucken als die Vorstellung, dass es sechs Bewaffneten gelungen sein könnte, in meine Wohnung einzudringen, ohne dass sie etwas davon mitbekommen haben.»
Zehn Sekunden darauf verließen sie den Schauplatz der gelungenen Befreiungsaktion, wobei die Fahrer sich exakt an die vorgeschriebene Geschwindigkeit hielten.
«Wo ist Finn jetzt?», fragte Garner.
«Er sitzt in einem Flugzeug. Unterwegs zu einem Ort, der acht Flugstunden entfernt ist.»
«Orte, die acht Flugstunden von New York entfernt sind, gibt es viele», erwiderte Garner. «Mitteleuropa, Nordafrika, Brasilien –»
«Nein, dort will er garantiert nicht hin», unterbrach Travis ihn. «Er ist unterwegs zu dem Zielort der Flüge, die von Yuma aus gestartet sind.»
«Sie meinen die Erica-Flüge.»
«So lautet die Bezeichnung», sagte Travis, «aber Sie buchstabieren sie im Geist falsch. Nicht anders als wir auch, die ganze Zeit über.»
Er deutete mit dem Kopf auf das Handy, das Garner an seinem Gürtel trug. «Rufen Sie im Internet eine Landkarte auf. Werfen Sie einen Blick auf Nordchile.»
Garner zückte das Handy, schaltete es an und rief eine Mercator-Projektion der Welt auf. Dann zoomte er das Bild näher heran, bis der Norden Chiles den kleinen Bildschirm ausfüllte. Die einzige größere Stadt in der Gegend war ein Ort an der Westküste namens Arica, gelegen zwischen dem Pazifik im Westen und der Atacamawüste im Osten.
«Arica-Flüge», sagte Garner.
Travis nickte. «Wir haben den Namen in Yuma nur über die aufgezeichnete Durchsage gehört. Geschrieben haben wir ihn nirgendwo gesehen.»
«Die Panikmaßnahme, nachdem alles schiefgelaufen war, bestand also darin, sämtliche Einwohner der USA in Yuma zu versammeln und dann einige wenige Auserwählte nach Arica in Chile auszufliegen?»
«Das ist teilweise richtig», sagte Travis. «Man hat die Bevölkerung in der Tat dort versammelt, und es haben auch Flüge stattgefunden. Schwer zu sagen, wie viele Menschen man nach Arica evakuiert hat. Mit hundert Flügen, verteilt über einen Zeitraum von einer Woche, hätte man Zehntausende ausfliegen können. Vielleicht liegt die Zahl auch höher. Oder niedriger. Das wissen wir einfach nicht.»
«Und was verstehe ich bei der Sache jetzt falsch?»
«Dasselbe, was wir alle falsch verstanden haben, von Anfang an.»
Garner sah ihn gespannt an.
«Beim Anblick der Ruinen von Washington haben wir uns spontan die Frage gestellt, was für ein Unglücksfall genau den Untergang der Welt verursacht haben könnte. Und in Yuma haben wir uns gefragt, was für eine Art von Krise Millionen von Menschen dazu veranlasst haben könnte, ihr Zuhause zu verlassen und sich an einem Ort zu versammeln, in dem sie unmöglich alle versorgt werden konnten.»
«Über diese Fragen zerbreche ich mir nach wie vor den Kopf», sagte Garner.
«Weit werden Sie dabei nicht kommen», sagte Travis, «weil es auf diese Fragen nämlich keine Antworten gibt. Es sind schlicht die falschen Fragen.»
«Und was sind die richtigen?»
Travis antwortete nicht sofort. Er starrte hinaus auf die dunklen Wälder, die draußen vorüberzogen. Einige Meilen vor ihnen war jetzt der weit ausgedehnte Lichtschein einer Trabantenstadt zu sehen.
«Bedenken Sie, was wir über Isaac Finn alles wissen», sagte er schließlich. «Früher mal war er beinahe so eine Art Heiliger. Hat sich schon als junger Mann ganz dem Ziel verschrieben, das Leiden auf der Welt zu lindern, und sich dafür allen möglichen Gefahren, Entbehrungen und Strapazen ausgesetzt. Wir wissen, dass er immer unkonventionelle Lösungsansätze verfolgt hat. Nach dem Ausstieg aus dem Peace Corps hat er seine eigene Organisation gegründet und für den Kampf gegen das Elend alle denkbaren Ressourcen mobilisiert. Er hat sogar Psychologen zur Begutachtung von Dorfbewohnern engagiert, um zur Führung ungeeignete Personen auszusondern und stattdessen nur die besten Leute zu fördern. Leute mit Attributen wie Freundlichkeit, Sorge um andere, Ablehnung von Gewalt. Wir wissen, dass er damit gescheitert ist, und als es dann zu den Gemetzeln in Ruanda kam, war er es endgültig leid. Er hat sein humanitäres
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