Dystopia
Sie jetzt bitte wieder da runterkommen, damit ich wieder normal atmen kann?»
Travis steckte den Federhalter ein, stützte dann kurz noch einmal beide Hände auf den Tisch und sah sich zu dem kleinen Stück Beton um, das ihn am Leben hielt. Fasste die Entfernung bis zu dem Stahlträger ins Auge.
Dann richtete er sich auf und überquerte die Fläche mit fünf raschen Schritten, jederzeit bereit, sich notfalls mit einem Hechtsprung zum Stahlträger hinüberzuretten. Es war nicht nötig. Falls sich der Beton unter ihm irgendwie regte, bekam er jedenfalls nichts davon mit. Sobald er sicher auf dem Träger angelangt war, stieß Bethany laut die Luft aus, aber er gönnte sich keine Verschnaufpause. Jetzt, wo sie endlich eine Information hatten, mit der sie arbeiten konnten, drängte es ihn zu größter Eile. Er drehte sich auf dem Träger um und hastete los zur Treppe.
Sie waren bereits sechs Etagen tiefer, als sie hörten, wie das kleine Betonstück hoch über ihnen mit einem Knacken entzweibrach. Sie wandten sich um, und da donnerte vor ihren Augen auch schon die Betonfläche mitsamt Schreibtisch zwischen den Stahlträgern in die Tiefe. Sie durchschlug mit Getöse die noch intakte Fläche im elften Stock, und dann landete alles zusammen dreißig Meter tiefer in der Grube unten im Fundament. Dicke Wolken Asche und trockenes Laub stoben empor.
Sie blickten nur kurz nach unten und eilten dann weiter die Treppe hinunter, so schnell sie nur konnten.
15
Drei Minuten später waren sie wieder bei ihrem Seil. Es baumelte unverändert aus der Iris zu dem Haufen aus Stahlträgern an der Südwestecke des Ritz-Carlton hinab. Bethany kletterte als Erste empor, Travis folgte ihr mit ein paar Metern Abstand. Als er sich durch die Iris ins Hotelzimmer schwang, stand sie bereits mit ihrem Handy am Fenster und tippte auf den Tasten herum.
Während Bethany anhand des Namens mehr herauszufinden versuchte, starrte Travis zu dem grün getönten Hochhaus hinüber. Stellte sich das Büro im obersten Stock bildlich vor, wo der Schreibtisch gegenwärtig stand, auf einem hochwertigen Teppichboden oder auf Dielen aus Hartholz, durch die hinweg er mit Bolzen im Beton verankert war. Vielleicht saß Eldred Warren gerade jetzt dort, mit demselben Füllfederhalter in der Schublade, der sich nun in Travis’ Hosentasche befand. Demselben Füllfederhalter, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie das praktisch möglich war, ließ sich gedanklich nur mit Mühe nachvollziehen.
«Bei der Steuerbehörde wird er nicht geführt», sagte Bethany. «Nicht allzu verwunderlich, als leitender Angestellter eines Unternehmens, das solchen Wert auf Geheimhaltung legt. Ich werde es mal im Handelsregister der Cayman-Inseln versuchen.»
Nach einer halben Minute stand fest, dass sein Name auch dort nicht registriert war.
«Es gibt noch eine Menge anderer Steueroasen, bei denen wir es versuchen können», sagte sie, «aber ehe ich damit anfange, nehme ich mal seine Akte bei der Sozialversicherung unter die Lupe. Da müssten wir zumindest ein paar Basisinfos zu dem Typen finden.»
Sie navigierte zwanzig Sekunden herum, drückte auf eine letzte Taste und wartete. Sie lächelte.
Dann runzelte sie die Stirn.
«Was ist?», fragte Travis.
«Hab ihn. In den Vereinigten Staaten gibt es nur einen Eldred Warren mit einer Sozialversicherungsnummer.»
«Na, dann dürfte das wohl unser Mann sein.»
«Ja und nein.»
«Was soll das heißen?»
«Gib mir noch eine Minute.» Nach ihrem aufreibenden Abenteuer in der Hochhausruine waren sie übereingekommen, sich fortan zu duzen.
Es dauerte ein wenig länger. Neunzig Sekunden lang navigierte sie auf ihrem Handy zu einer anderen Datei und überflog die Informationen, wobei sich ihr Stirnrunzeln vertiefte.
«Es ist der Richtige», sagte sie dann, «aber jetzt wird er uns doch nicht weiterhelfen können.»
«Wieso nicht?»
«Weil er noch gar nicht in dem Gebäude arbeitet. Ich habe hier gerade seinen Blog aufgerufen. Er hat als Zweitbester seines Jahrgangs sein Jurastudium in Harvard abgeschlossen … vor drei Monaten. Eine feste Stelle hat er aber noch nicht angetreten.»
«Klingt ziemlich unglaubhaft», sagte Travis. «Leute wie er werden doch normalerweise schon vor der Examensfeier mit Stellenangeboten überhäuft, oder?»
«Tonnenweise, aber so jemand weiß auch, dass er es sich leisten kann, wählerisch zu sein. Würde mich nicht wundern, wenn er sich Zeit damit lässt. Ich hatte selbst ein Dutzend Angebote und habe mich
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