E-Book - Geisterritter
welchen Zug ich nehme. Soll ich dir irgendwas mitbringen?«
»Süßigkeiten«, murmelte ich, während ich immer noch meine zerschundene Hand anstarrte. »Schokolade, Lakritze, Weingummi …« All das war verboten im Königreich der Popplewells, aber das musste ich ihr ja nicht sagen. Vielleicht würde Angus mir eins seiner Stofftiere leihen, um auch meine Vorräte zu verstecken.
Ella hob die Augenbrauen, als sie meine Aufzählung hörte. Sie verabscheute Weingummi und Lakritze – was natürlich wunderbar war. Mit elf gibt es nichts Schlimmeres als Freunde, die dieselben Süßigkeiten mögen.
Alma erlaubte Ella noch, für den Film zu bleiben, den sie imGemeinschaftsraum zeigten. Es war irgendein alter Horrorfilm, in dem die Geister wie wandelnde Bettlaken aussahen und nicht mal die Zweitklässler erschrecken konnten. Aber Ella und ich lachten nicht ein einziges Mal. Wir saßen nebeneinander und versuchten, die Geister zu vergessen, denen wir hinten im Garten begegnet waren. Auch wenn wir beide wussten, dass wir uns an die Angst, die wir gehabt hatten, noch erinnern würden, wenn wir so alt wie Zelda waren.
Trotzdem. An diesem Abend glaubten wir tatsächlich, dass Stourton und seine Knechte dank Longspee für alle Zeit aus unserem Leben verschwunden waren. Aber wie sich herausstellen sollte, hatte selbst Ella noch einiges über Geister zu lernen.
9
Das gestohlene Herz
E dward Popplewell brachte Ella nach dem Film zurück zu Zelda. Der Weg über die Schafsweiden war an jedem Abend unheimlich, doch ich war sicher, dass Ella in dieser Nacht besonders dankbar für Begleitung war – auch wenn Edward ihr auf dem Weg das alte Bewässerungssystem von Salisbury erklärte. Wir hatten beide beschlossen, dass es besser war, weder Zelda noch Ellas Eltern von unserem Abenteuer zu erzählen. Ich hätte gut verstehen können, wenn sie ihr sonst den Umgang mit mir auf der Stelle verboten hätten.
»Wir erzählen es ihnen, wenn wir achtzehn sind«, flüsterte Ella mir zum Abschied zu. »Auch wenn sie es bestimmt nicht glauben werden.«
Ich vermisste Angus’ schläfriges Summen, als ich ins Bett kroch, und dass Stu über mir den Namen irgendeines Mädchens stöhnte, doch die Nacht hatte nie süßer geschmeckt. Die Angst war nocheine frische Narbe, aber zum ersten Mal seit Tagen war ich ziemlich sicher, dass ich meinen zwölften Geburtstag erleben würde. Trotzdem ging ich irgendwann ans Fenster, um mich zu versichern, dass tatsächlich keine blutleeren Gesichter zu mir heraufstarrten. Ich fuhr zusammen, als sich bei den Ascheimern etwas bewegte, aber es war nur Alma, die den Müll nach draußen brachte.
Es war eine klare Nacht, und am Himmel standen so viele Sterne, als feierten sie dort oben mit einem Feuerwerk, dass Longspee Stourton den Garaus gemacht hatte. Ich fragte mich, wo er nun war. Wieder in der Kathedrale, um dort auf einen weiteren verzweifelten Jungen zu warten, der ihn zu Hilfe rief? Ich hätte zu gern mehr über ihn gewusst, über sein Leben und über die Taten, die er sich von der Seele waschen wollte. Ich hätte mich so gern revanchiert für das, was er für mich getan hatte. Doch am meisten wünschte ich mir, ihn wiederzusehen.
Und? Worauf wartest du, Jon?, dachte ich. Geh zu ihm. Dies ist die Nacht, um Danke zu sagen. Du wirst dich vermutlich nie wieder so mutig fühlen wie heute.
Gedacht. Getan.
Ich stopfte ein paar von Angus’ Stofftieren unter meine Decke, damit es aussah, als läge ich darunter. Dann zog ich mich wieder an und schlich auf Socken, die Schuhe in der Hand, an der Tür der Popplewells vorbei nach unten. Zum Glück ließen sie nachts den Schlüssel stecken. Ich zog ihn ab und nahm ihn mit, in der Hoffnung, dass sie es nicht bemerkten, bevor ich zurückkam.
Diesmal blieb der Domhof menschen- und geisterleer, als ich auf die Kathedrale zulief. Die Mauer um die Kreuzgänge ist so hoch,dass es selbst für einen Erwachsenen nicht leicht ist hinüberzuklettern, aber zum Glück fand ich einen Baum, von dem ich mich hinüberhangeln konnte. Als ich auf die Steinfliesen hinter der Mauer sprang, landete ich so hart, dass ich für einen Augenblick dachte, ich hätte mir den Knöchel gebrochen, aber der Schmerz verging, und der Geist des Steinmetzjungen tauchte auch nicht auf. Nichts rührte sich zwischen den Säulen. Der Mond malte silberne Muster auf Gras und Stein – und natürlich waren die Türen der Kathedrale verschlossen, so heftig ich auch daran rüttelte. Was hatte ich
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