E-Book - Geisterritter
erwartet?
»Longspee?«, flüsterte ich und presste mein Ohr gegen das alte Holz.
Der Wind rauschte in den Zweigen der Zeder, aber sonst war alles still, und ich setzte mich auf die Fliesen, den Rücken gegen die verschlossenen Türen gelehnt, und starrte auf den Löwen in meiner Hand. Der Abdruck war verblasst. Natürlich, er hatte seinen Zweck erfüllt. Ich würde Longspee nie wiedersehen. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Verdammt. Seit ich hier war, kamen sie mir schneller als meinen kleinen Schwestern! Ich fuhr mir mit dem Ärmel übers Gesicht und presste die Finger auf den verblassenden Löwen.
»Warum weinst du, Jon?«
Ich blickte auf.
Longspee sah auf mich herab. Seine Tunika war immer noch mit Blut bedeckt.
»Es ist nichts. Gar nichts«, stammelte ich und kam auf die Füße. Ich war so glücklich, ihn zu sehen. So blödsinnig glücklich.
»Das haben meine Söhne auch gesagt, wenn ich sie beim Weinen ertappte. Hör auf, dich für Tränen zu schämen. Ich hab in meinem Leben sehr viele vergossen und es waren immer noch nicht genug.«
Das Schwert, das er Stourton in die Brust gestoßen hatte, hing an seiner Seite.
»Was?« Er folgte meinem Blick. »Du blickst drein, als hättest du noch nie ein Schwert gesehen.«
Ich hatte Schwerter gesehen. Dutzende. In Filmen und Museen. Aber ich hatte nie zuvor gesehen, wie eines in einem wirklichen Kampf benutzt wurde. Es war furchtbar gewesen, auch wenn es nur das Schwert eines Geistes war. Und ich konnte die Augen nicht davon lassen.
»Es ist bestimmt sehr schwer, oder?«
»Oh ja. Ich weiß noch, wie schnell meine Arme schmerzten, nachdem mein Bruder mir zum ersten Mal eins in die Hand gedrückt hat. Meine Finger waren zu kurz, sich um den Knauf zu schließen, und nach meiner ersten Übungsstunde konnte ich nicht einmal mehr einen Löffel heben.«
»Dein Bruder? Das war Löwenherz.«
»Ich hatte viele Brüder. Mehr als ein Mann braucht. Alle älter als ich. Und stärker. Sie wurden es nie leid, den Bastarden ihres Vaters das Leben schwer zu machen. Zum Glück beschützte unsere Stiefmutter uns … der Einzige, dem sie alles durchgehen ließ, war Johann.«
Seine Stiefmutter. Eleonore von Aquitanien. Natürlich hatte Bonapart uns von ihr erzählt. Und Johann war Johann Ohneland,Prinz John. Der Mann, der Robin Hood gejagt hatte. Falls es den wirklich gegeben hatte. Bonapart bestritt es energisch. Ich wollte Longspee nach ihm fragen, aber er schien verloren in seinen Erinnerungen. Er blickte die dunklen Kreuzgänge hinunter, als sähe er seine Brüder zwischen den Säulen stehen.
»Kann ich … kann ich das Schwert mal halten?«
Ja, ich weiß. Entsetzlich kindisch. Ich war elf (obwohl … wenn ich ehrlich bin … ich würde ihn heute vermutlich dasselbe fragen).
Longspee lachte. Es wischte ihm die Traurigkeit vom Gesicht.
»Nein. Hast du vergessen? Das ist das Schwert eines Geistes! Es ist nichts als ein Schatten – wie ich.«
»Aber dein Ring!« Ich wies auf den Abdruck in meiner Hand.
»Das Siegel ist mir geblieben, weil der Tod sichergehen will, dass ich meinen Eid erfülle. Aber alles andere ist nichts als Schatten und Dunkelheit.«
Er sah mich an.
»Die Dunkelheit bedeckt meine Seele wie Ruß, Jon. Ich wünschte, ich hätte noch einmal eine Seele wie du, jung und unbefleckt von Zorn, Neid und falschem Ehrgeiz. Keine Erinnerungen an blutige Taten, die dich verfolgen, keine Grausamkeit, die dich für immer beschämt, kein Verrat, der dir den Glauben an dich selbst nimmt.«
Ich senkte den Kopf. Jung und unbefleckt? Ich dachte an die Grabsteine, die ich für den Vollbart gezeichnet hatte und an all die Todesarten, die ich mir für ihn ausgemalt hatte.
Longspee lachte leise.
»Was rede ich da?«, sagte er mit verschwörerisch gesenkter Stimme. »Natürlich weißt du auch schon von all diesen Dingen. Als ich so alt war wie du, wollte ich mindestens zwei meiner Brüder töten. Und die Geliebte meines Vaters habe ich eine Wendeltreppe hinuntergestoßen. Was mir die schlimmste Tracht Prügel meines Lebens einbrachte.«
Dieses Geständnis tat mir gut. Aber ich konnte die Augen immer noch nicht von dem Schwert lassen.
»Ich wünschte trotzdem, du könntest es mir beibringen«, murmelte ich.
»Beibringen? Was?«
»Das Kämpfen.«
Er musterte mich mit nachdenklichem Blick.
»Ja, als ich so jung war wie du, wollte ich auch nichts anderes lernen. In deinem Alter wusste ich sogar schon einiges darüber. Ich wurde Knappe, als ich
Weitere Kostenlose Bücher