E-Book - Geisterritter
erinnerte ich mich sogar, woher ich sein Gesicht kannte.
Auf dem Flur vor der Schulkapelle hing ein Bild von vier Choristen, alle etwas jünger als ich. Ich hatte schon immer gefunden, dass dem zweiten von links die Bosheit auf die Stirn geschrieben stand. Der Eindruck hatte mich nicht getäuscht.
Als er neben mir stehen blieb, konnte ich die Bänke hinter ihm durch seinen Mantel sehen, und ich erinnere mich, dass ich dachte: Oh nein, nicht noch ein Geist! Doch als er die blasse Hand hob und mir den Löwenabdruck darin zeigte, dachte ich gar nichts mehr.
»Warum hast du ihn gerufen?« Seine Stimme klang heiser, als gebrauchte er sie nicht allzu oft.
Ich stand auf und schob mich aus der Bank. Er war kleiner alsich und nach meinen Erfahrungen mit Stourton hatte ich nicht wirklich Angst vor ihm.
»Von wem redest du?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort natürlich wusste und dachte: Jon, du bekommst langsam Übung darin, mit Geistern zu reden.
Mein Gegenüber verzog spöttisch den Mund. Ich konnte durch sein Gesicht sehen wie durch zerschlissenen Stoff.
»Tu nicht so dumm. Ich wette meinen Platz in der Hölle, dass er von dir dieselbe Bezahlung verlangt hat. Stimmt’s?«
Er lachte. Es klang ziemlich abscheulich und sein Gesicht löste sich fast auf dabei.
»Lass mich durch!«, sagte ich und schob mich an ihm vorbei, aber er stand sofort wieder vor mir.
»Wo willst du denn hin? Gib es schon zu. Er hat dich auch gebeten, sein Herz zu suchen. Der heilige William!« Sein Gesicht verzerrte sich so sehr, dass es eher dem einer Katze als dem eines Jungen glich. »Ich hab ihn gerufen, damit er mich vor einem meiner Lehrer beschützt. Ich war die ewigen Prügel leid, und ich hatte von dem Ritter gehört, der in der Kathedrale schläft und geschworen hat, die Schwachen zu beschützen und all das …« Er bleckte die Zähne, wie Stourton es getan hatte. »Oh ja, er hat mir geholfen. Mein Lehrer hat schluchzend vor ihm auf den Knien gelegen – und mich nicht mehr angerührt. Aber dann sollte ich ihm sein verfluchtes Herz suchen. Und als ich es fand, was hatte ich davon?«
Ich sah die Bankreihen durch seine Brust.
»Er hat mich umgebracht!«, zischte er mir zu. »Und mit dir wird er es genauso machen.«
Dann war er verschwunden.
Und ich stand da und starrte auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Lügner!, dachte ich, schmutziger toter Lügner! Ich hoffe, Longspee spießt dein schwarzes Herz ebenso auf, wie er es mit Stourtons getan hat.
Aber um mich herum schien es von überall zu flüstern: Er hat mich umgebracht. Umgebracht. Umgebracht!
Nein. Nein, es konnte nicht wahr sein.
»Komm zurück!«, rief ich, während ich mich in der leeren Kapelle umsah. »Komm zurück, du dreckiger Lügner!«
»Whitcroft?«
Mrs Tinker, die Schulsekretärin, stand in der Kapellentür. Alle nannten sie Tinkerbell, obwohl sie nicht gerade winzig war. Im Gegenteil. Sie passte kaum hinter ihren Schreibtisch. Aber wenn man nicht wusste, in welchen Klassenraum man musste oder ein Pflaster brauchte, ging man zu Tinkerbell. Außerdem wusste sie alles über den Bischofspalast.
»Mrs Tinker … wissen Sie irgendwas über die Jungen da draußen auf dem Bild?«, fragte ich.
Tinkerbell drehte sich in der Kapellentür um und blickte das Bild an. »Oh, die! Ja, sicher«, sagte sie. »Der ganz rechts wurde Operettensänger in London – hatte einen ziemlich schlimmen Ruf – und der zweite von links ist der Chorist, der aus dem Fenster gestürzt ist. Ich versuch immer, Mitgefühl mit ihm zu haben, aber …«
»Er ist aus dem Fenster gestürzt?«
»Ja. Hat sich den Hals gebrochen. Es gab damals wohl das Gerücht, dass ihn jemand gestoßen hat. Aber angeblich war er allein, als es passierte.«
Ich hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter meinen Füßen auftat.
»Ich hab nach dir gesucht!«, fuhr Tinkerbell fort. »Zelda Littlejohn hat angerufen und gefragt, ob du Ella gesehen hast. Was etwas seltsam ist, weil Ella heute gar nicht in der Schule war, aber ich hab ihr gesagt, ich würde dich trotzdem fragen.«
»Nein«, murmelte ich, während ich in meinem Kopf den Choristen aus dem Fenster fallen sah. »Nein, ich hab Ella auch schon gesucht.«
Tinkerbell zuckte die Schultern und wandte sich zur Treppe. »Na, mal sehen, vielleicht weiß ihre Großmutter inzwischen, wo sie steckt!«
Kaum zu fassen, aber mein Verstand löste immer noch keinen Alarm aus. Er war allzu sehr damit beschäftigt zu verarbeiten, was der tote
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