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sah Lou mich, den Koffer zwischen uns geparkt, mit ernster Miene an. „Ohne Rolands Buch stecken wir in der nächsten Saison in richtig miesen Schwierigkeiten. Aber fühl dich nicht unter dem Druck, Michael davon zu überzeugen, seinen Roman schneller fertig zu kriegen oder dergleichen.“
„Werd ich nicht.“ Ich lächelte ihn an. Mein Zähne fingen schon wieder an zu klappern.
„Pass auf dich auf. Und sag den Stewardessen, dass sie dich alle paar Minuten mal antippen sollen, um sich davon zu überzeugen, dass du noch atmest.“
„Alles klar, Lou. Mach ich“, blubberte ich von irgendwo unter Wasser. Mir war schon, als hätte ich sogar eine Meerjungfrau gesehen, die an mir vorbeischwamm. Eine Meerjungfrau, die aussah wie meine Mutter. Halluzinationen. Jetzt hatte ich schon Halluzinationen. Genau das, was ich kurz vor einem Flug brauchte.
Lou zog mich an sich. „Ich liebe dich, Cass. Und jetzt verpiss dich. Hau schon ab aus diesem Land.“
Er umarmte mich fest, und ich genoss seinen Geruch. Es war der Geruch eines alten Mannes, ähnlich dem meines Vaters. Und ich bildete mir sogar ein, den Geruch nach chemischer Reinigung an seinem Hemd wahrzunehmen. Aus den Tiefen einer Unterwasserhöhle hörte ich mich gurgeln: „Ich liebe dich auch.“ Als die Worte meinem Mund entfuhren, fragte ich mich, wer sie gesagt hatte.
Lou trat einen Schritt zurück und lächelte mich an. Dann wischte er sich kurz über die Augen, drehte sich um und verschwand im Gewusel der Haupthalle.
Als ich ihn in der Menge nicht mehr ausmachen konnte, ging ich durch die Kontrolle und hinunter zu meinem Gate, um einzuchecken. Ich hatte mir einen Platz am Gang in der Ersten Klasse reservieren lassen. Mit jedem Satz, den ich mit dem Flughafenangestellten wechselte, fiel mir das Atmen schwerer.
„Das Boarding beginnt in einer Stunde fünfzehn Minuten. Wir werden vermutlich pünktlich starten.“
„Gibt es hier irgendwo ein Telefon?“
„Gleich dort drüben, bei den WCs, da hängen vier oder fünf nebeneinander.“
„Danke.“ Wir tauschten ein Lächeln aus, und ich lief in die beschriebene Richtung. Ich zog meine Telefonkarte hervor und wählte die Nummer meiner Mutter.
„Hallo?“ Eine Frau mit ausländischem Akzent hatte abgenommen.
„Ist Sofia da?“
„Darf ich fragen, wer anruft?“
„Cassie Hayes.“
Das Hausmädchen meiner Mutter legte das Telefon zur Seite, und ich hörte, wie jemand sich entfernte, dann das Klackern hoher Absätze auf einem Marmorboden.
„Cassandra?“
„Hallo, Sophia.“
„Ich habe die ganze Zeit über meinen Besuch bei dir nachgedacht.“
„Es war zu kurz, um es Besuch zu nennen.“
„Siehst du, das meine ich … Ist es so schwer, nett zu mir zu sein?“
„Ja.“
Sie schwieg. Nach einem langen Seufzer sagte sie weicher: „Ich weiß, dass du es mir nicht glaubst, aber ich wäre wirklich gern ein Teil deines Lebens.“
Am liebsten hätte ich ihr sofort entgegengeschleudert, wo sie denn dann all die Jahre gewesen sei, doch mir kamen Lous Worte in den Sinn. Worauf war ich wirklich wütend? Ich lauschte meinem eigenen Atem wie ein Taucher, der sich über den Druckmesser seiner Sauerstoffflasche hört. Einatmen. Ausatmen. Wieder schwamm die Meerjungfrau an mir vorbei und sah mich an. Also sagte ich endlich: „Glaubst du nicht, es ist zu spät?“
„Nein. Es ist nie zu spät. Von wo rufst du mich an?“
„Vom Flughafen. Ich fliege nach London, und aus mir selbst nicht nachvollziehbarem Grund wollte ich dir Tschüss sagen. Falls das Flugzeug abstürzt.“
„Um Himmels willen, nein. Das wird nicht passieren. Weißt du nicht, dass fliegen viel ungefährlicher ist, als Auto fahren? Stan und ich fliegen immer. Er hat ein Häuschen am Golf, weißt du.“
„Faszinierend.“
„Wann kommst du zurück?“
„Ich weiß es noch nicht. Aber ich rufe dich an. Vielleicht können wir dann ja mal zusammen essen gehen.“
Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Das würde ich sehr gern tun, Cassandra. Wirklich.“ Sie klang glücklich. „Hab … hab eine gute Reise. Komm gut an. Und … pass auf dich auf.“
„Okay, Ich melde mich, Sophia.“
Ich legte auf. Die Meerjungfrau war verschwunden. Weggeschwommen. Ich ließ sie ziehen, zurück auf ihren Stein in Kopenhagen.
Erneut nahm ich den Hörer in die Hand und wählte – diesmal war es Michaels Nummer.
„Hallo?“
„Schöne Scheiße, Michael. Du bist nicht ans Telefon gegangen, und meine E-Mails hast du nicht beantwortet. Ich will mal hoffen,
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