Éanna - Ein neuer Anfang
gelangten und der Orange Street nach Süden folgten, wechselte das Straßenbild rasch. Was Éanna nun sah, kam ihr nur allzu bekannt vor: Die Straßen waren nicht länger breit und sauber, sondern bald knöcheltief von Abfällen, Kot und verrottetem Stroh bedeckt, was die vielen fliegenden Händler beiderlei Geschlechts mit ihren Handkarren und Bauchläden und den Strom der Passanten, der an ihnen vorbeizog, jedoch nicht im Mindesten zu stören schien. Ebenso wenig wie es die Schweine störte, die frei herumliefen und mit ihrer Schnauze im Dreck nach Essbarem wühlten. Zugleich nahm die Zahl der zerlumpten Gestalten, der halb nackten Kinder und der Betrunkenen zu, die Éanna, Emily und Brendan begegneten. Und auch die heruntergekommenen, baufälligen Häuser auf beiden Seiten der Straße, oft nur aus billigen Holzbrettern errichtet und mit glaslosen Fenstern, sowie die große Zahl von Tavernen, vor denen Dirnen jeden Alters herumlungerten, zeigte ihnen nur allzu deutlich, wo sie sich nun befanden: in einem der dicht besiedelten Elendsviertel von New York.
»Allmächtiger, hier sieht es ja schlimmer aus als in den Liberties!«, entfuhr es Brendan, der angesichts des unerträglichen Gestanks und der eindrücklichen Bilder des Verfalls, des Elends, der Trunkenheit und Prostitution ehrlich schockiert wirkte.
»Erinnerst du dich, wie Mister Calloway von den Five Points erzählt hat«, fragte Emily beklommen und sah sich nach einem Gebäude oder Straßenschild um, das ihnen Orientierung geben konnte. »Ob wir etwa dort gelandet sind?«
»Worauf du einen lassen kannst, Püppchen!«, ertönte da plötzlich hinter ihnen eine raue Stimme. Überrascht drehten die drei sich um: Links vor ihnen auf dem Boden hockte, lässig an eine Hauswand gelehnt, ein Junge und grinste sie herausfordernd an. Er war höchstens zwölf, dreizehn Jahre alt und das Auffälligste an ihm waren zwei große Hasenzähne, die unter der Oberlippe hervorsprangen. Sein Blick wirkte seltsam glasig, zwischen den Beinen hielt er eine halb volle Flasche mit einer klaren Flüssigkeit darin, die er nun an die Lippen setzte. Beim Trinken lief ihm die Flüssigkeit seitlich am Mund hinab und tropfte auf das zerrissene Hemd, doch der Junge schien es nicht einmal zu bemerken.
Unwillkürlich blieben sie stehen, gleichzeitig angezogen wie abgestoßen von diesem kleinen Kerl, der am helllichten Tag und mitten auf der Straße Alkohol trank, ohne offensichtlich das Eingreifen von Erwachsenen oder gar der Polizei befürchten zu müssen.
»Da gleich am Ende der Straße isse, die Kreuzung, die unserer hübschen Gegend den Namen gegeben hat«, erklärte er nun mit schwerem Zungenschlag. »Wollt ihr ’ne Führung, Leute? Kostet euch nur ’n Nickel.« Schwankend stand er auf. »Bring euch dafür sogar in den großen Backsteinkasten da drüben, gleich links auf der anderen Seite der Kreuzung! Heißt Old Brewery, weil da mal vor Jahren Bier gebraut wurde. Jetzt isses ’ne Absteige für ’n paar Hundert Five Pointers. Auch ’n paar unsrer Gangs haben sich da einquartiert – heißt bei uns nur ›Höhle der Diebe‹, wo die wohnen. Echt schaurig da drüben. Is ’n irres Labyrinth aus Gängen, Stiegen und Wohnlöchern und dunkel wie in ’m zugenähten Arsch. Ohne jemanden, der sich auskennt und von hier is wie ich, biste da verloren und ritsch, ratsch hin! Also was is, Leutchen? Kleine Schnuppertour gefällig? Mit mir seid ihr da sicher. Hab schon oft die fein gepuderten Damen von der Mission und die blöden Ärsche vom Temperenzlerverein* durch den verbauten Kasten geführt. Rückt’n Nickel raus und Billy the Rabbit ist euer Mann!«
»Danke, kein Bedarf!«, wehrte Éanna hastig ab, der es bei der Beschreibung der Old Brewery kalt über den Rücken gelaufen war, und zog Brendan und Emily mit sich weiter.
»Armer Kerl«, murmelte Emily mitleidig.
»Ach was!«, brummte Brendan und schüttelte den Kopf. »Statt zu saufen und auf der Straße herumzulungern, könnte er ja auch wie die vielen anderen Jungen Zeitungen verkaufen oder sonst was machen! Wenn man wirklich aus dem Elend rauswill, gibt es immer einen Weg. Man muss es nur wollen und darf sich nicht unterkriegen lassen!«
»Du hast ja recht«, seufzte Éanna, doch insgeheim dachte sie bei sich, dass sie nicht wissen konnten, wie der Junge in diese Lage gekommen war.
Emily sah sich um. »Es ist schon fast Mittag und ich glaube kaum, dass wir hier Arbeit finden werden. Lasst uns also lieber zusehen, dass wir so
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