Éanna - Ein neuer Anfang
schnell wie möglich aus diesem Elendsviertel wieder hinauskommen. Was haltet ihr davon, wenn wir Mister Calloways Rat befolgen und den Friendly Sons of St. Patrick einen Besuch abstatten?«
Wenig später erreichten sie die Kreuzung, der Five Points seinen Namen verdankte. Sie wurde von der Cross, der Anthony und der Orange Street gebildet. Dort, wo sie sich trafen, bildeten die einander gegenüberliegenden Eckhäuser um einen dreieckigen freien, verdreckten Platz herum einen fünfeckigen Stern.
Sie überquerten die Kreuzung, liefen die Verlängerung der Orange Street hinunter und gelangten zu den East River Docks, wo sie sich nach dem Weg erkundigten.
Eine halbe Stunde später standen sie vor den Büros der Friendly Sons of St. Patrick . Doch ihre Hoffnung, dort eine Arbeitsstelle vermittelt zu bekommen, wurde bitter enttäuscht. Zu viele ihrer Landsleute schienen an diesem Tag den gleichen Gedanken wie sie gehabt zu haben.
Éanna fühlte sich zum ersten Mal, seit sie in Amerika angekommen waren, ernüchtert, als sie mit Brendan und Emily den großen Gebäudekomplex wieder verließ. Angesichts des Andrangs arbeitsloser Iren, der ihnen hier in der letzten Stunde begegnet war und der den Worten der ehrenamtlichen Mitarbeiter zufolge von morgens bis abends nicht abriss, standen ihre Chancen, mithilfe der Friendly Sons of St. Patrick Arbeit zu finden, mehr als schlecht.
»Hier Tag für Tag herumzuhängen, können wir uns wohl sparen«, stellte sie fest, als sie wieder auf der Straße standen. »Wir müssen schon selbst Arbeit finden.«
»Und das werden wir auch!«, erklärte Brendan entschlossen. »Immerhin ist das heute der erste richtige Tag, an dem wir in New York auf Jobsuche sind. Also kein Grund, jetzt schon den Kopf hängen zu lassen!«
Und dasselbe sagte er noch einmal Stunden später, als sie um kurz vor sieben müde, hungrig und erfolglos im Emerald Isle eintrafen. Tom Mahony, der bereits in Gesellschaft zweier Landsleute bei Porter und Kartenspielen an einem der Tische saß, winkte ihnen fröhlich zu, um sich dann gleich wieder seinem Blatt zu widmen.
Éanna war froh, dass Brendan keine Anstalten machte, zu ihm hinüberzugehen, und hoffte, dass es auch zukünftig dabei blieb.
Als die Wirtin ihnen das Essen brachte, machte Brendan den beiden Mädchen einen Vorschlag: »Ich glaube, wir sollten von morgen an getrennt auf Arbeitssuche gehen. Da, wo ich vielleicht Geld verdienen kann – etwa drüben am Hafen oder auf einer Baustelle –, werdet ihr beide wohl kaum eine Arbeit finden, und wo man euch vielleicht brauchen könnte, da werde ich wahrscheinlich kein Glück haben.«
Éanna stimmte ihm zu. »Ja, wenn du auf den Baustellen mit uns im Schlepptau erscheinst, scheint sich das wirklich nachteilig auf deine Chance auszuwirken, das haben wir ja heute gemerkt. Offenbar mögen sie es hier nicht, wenn jemand an ihr Mitleid appelliert, auch wenn es vielleicht unausgesprochen bleibt.«
Emily nickte. »Ihr habt recht. Wir beide sollten morgen bei Agenturen vorstellig werden, die Dienstmädchen und Personal aller Art in bessere Haushalte vermitteln, Éanna. Ich bin sicher, dass es in New York bei all den vermögenden Leuten eine ganze Menge Familien gibt, die eine zupackende Hand gebrauchen und auch entsprechend entlohnen können.«
»Gute Idee!« Éannas Augen leuchteten auf. »Irgendwo bei einer guten Familie in Stellung zu kommen, das wäre genau das Richtige für uns! Da hat man Kost und Logis frei und kann seinen Lohn auf die hohe Kante legen!«
Brendan dagegen zog die Stirn kraus und ließ langsam den Löffel sinken. Offensichtlich behagte ihm Emilys Vorschlag ganz und gar nicht. »Als Dienstmädchen müsst ihr für die feinen Leute die ganze Drecksarbeit erledigen«, brummte er in Emilys Richtung und sah dann Éanna an. »Außerdem bekäme ich dich dann kaum noch zu Gesicht – wir würden nicht länger zusammen wohnen und du hättest sicher höchstens den Sonntag oder vielleicht sogar nur den halben Sonntag frei!«
»Das ist auch wieder wahr«, räumte Éanna ein und lächelte Brendan an. Er hatte zuerst an sie gedacht, nicht an den Lohn, den die Stelle bringen würde! »Schön wäre es wirklich nicht, wenn wir uns nur noch so selten sehen würden. Aber wenn es nichts anderes gibt …«
»Es wird ganz sicher andere Arbeit für euch geben!«, erwiderte Brendan mit Nachdruck. »Hier in der Stadt stehen doch so viele Fabriken wie in ganz Irland nicht! Und in so einer Fabrik hat man einen geregelten
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