Éanna - Ein neuer Anfang
Weinhandlungen und wieder Spezialitätengeschäfte. Vornehm gekleidete Fußgänger flanierten auf den Gehsteigen, Kutschen hielten, um sichtlich wohlsituierte Gäste aussteigen zu lassen. Und über allem lag der Staub von mehreren großen Baustellen, wo alte Gebäude abgerissen und neue aufgebaut wurden. Patrick saß vorgebeugt in der Kutsche und schaute gebannt aus dem Fenster. Der gesamte Broadway erschien ihm als ein einziges berauschendes Fest der Sinne.
Doch nicht nur die opulente Prachtstraße – ganz New York war eine höchst erstaunliche Stadt, die Besuchern den Atem rauben konnte. Schnelligkeit und Größe um jeden Preis schien hier das Motto zu sein – und mit welcher Energie und welch technischer Genialität man dieses Motto in die Tat umsetzte! Am Abend zuvor hatte Patrick in der Hotelbar einen Banker aus Virginia kennengelernt, der mehrmals im Jahr geschäftlich in New York zu tun hatte. Er sei gerade einmal drei Monate lang nicht in der Stadt gewesen und erkenne sie nun bei seiner Rückkehr kaum wieder, hatte der Mann ihm erklärt und lachend hinzugefügt, dass er sich am nächsten Tag wohl erst einmal einen neuen Stadtplan besorgen müsse. Patrick schmunzelte bei der Erinnerung an diese Worte. Doch einen wahren Kern hatte die Aussage des Fremden sicher gehabt – eine Stadt wie New York suchte wohl in diesen Jahren vergeblich nach Vergleichbarem auf der ganzen Welt.
Die Buchhandlung Templeton’s Fine Books mochte äußerlich nicht mit den Geschäften auf dem Broadway konkurrieren können. Doch als Patrick sie betrat, sah er sofort, dass er sich hier wohlfühlen und in den dunkelbraunen Buchregalen, die an allen vier Wänden vom Boden bis zur Decke reichten, genug Lektüre finden würde, die ihn interessierte. Gleich vorn am Eingang blieb er stehen, nachdem er auf einem runden Mahagonitisch mit geschnitzten Klauenfüßen die englischen Ausgaben bekannter zeitgenössischer deutscher und französischer Denker und Romanciers entdeckt hatte, die, wie er wusste, engagiert für mehr Bürgerrechte und Teilhabe des Volkes in allen Bereichen der staatlichen Macht eintraten.
Der Buchhändler war ein mittelgroßer Mann in den Endfünfzigern mit vollem, schon grauem Haar und einem buschigen Schnurrbart, dessen spitze Enden er mit Bartwichse hochgezwirbelt hatte. Er stand im hinteren Teil des großzügigen Raumes und war in ein angeregtes Gespräch mit zwei vornehm gekleideten Damen mittleren Alters vertieft. Auf seiner Nase thronte ein in Gold eingefasster Kneifer. Er trug graue Hosen, ein weißes Hemd mit steifem Kragen, Ärmelschoner und eine schwarz-graue, fein gestreifte Weste. Bei den Frauen schien es sich, dem angeregten Wortwechsel nach, um Schwestern zu handeln, die sich eingehend über die Bücher Balzacs informieren ließen.
Nun grüßte er seinen neuen Kunden freundlich, und nachdem er das Beratungsgespräch mit den beiden Damen beendet hatte, kam er gemessenen Schrittes auf ihn zu. »Kann ich Euch in irgendeiner Weise behilflich sein, mein Herr?«, erkundigte er sich mit einem freundlichen Lächeln. »Wenn Ihr etwas Bestimmtes sucht, das Ihr bisher nicht gefunden habt, stehe ich Euch gern zu Diensten.«
»Danke für das freundliche Angebot, aber wie Ihr seht, bin ich bei Euch schon reichlich fündig geworden, Mister Templeton«, antwortete Patrick und deutete auf die vier Bücher unter seinem Arm, an denen er einfach nicht hatte vorbeigehen können.
Der Buchhändler rückte seinen Kneifer zurecht und warf einen kurzen Blick auf die Auswahl, die Patrick getroffen hatte. Verfasser und Titel erkannte er offenbar schon anhand der Einbände. Er nickte zustimmend. »Eine vortreffliche Wahl, wenn auch recht schwere Kost für einen so jungen Herrn, wenn Ihr mir diese Bemerkung erlaubt.«
Patrick lachte. »Ach, ich werde mich schon durchbeißen. Es gibt für mich nichts Langweiligeres als sogenannte leichte Lektüre! Mich reizt ein Text eigentlich erst dann so richtig, wenn er mich herausfordert oder sich mir erst auf den zweiten Blick öffnet.«
Wieder nickte Charles Templeton beipflichtend. »Ein wahres Wort, mein Herr. Verzeiht die Neugierde, aber ich nehme an, Ihr seid neu in New York?«
»So ist es, sozusagen frisch vom Schiff, wie man hier wohl sagt«, bestätigte Patrick und stellte sich vor. Dann berichtete er Mister Templeton, wie er auf seinen Buchladen aufmerksam geworden war.
»Und darf ich fragen, was Euch in diese Stadt führt, Mister O’Brien?«, erkundigte sich der
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