Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
elegant geschwungenen Steinbögen über den Fluss spannte. Auf der Mitte der Brücke blieb sie kurz auf der Hafenseite an der steinernen Balustrade stehen und nahm das faszinierende Panorama in sich auf. Für ein Mädchen vom Land wie sie, das sich zum ersten Mal in seinem Leben in einer Hafenstadt befand, war der Anblick immer wieder aufs Neue überwältigend.
Selbst am Sonntag herrschte auf dem Liffey und an den zahllosen Landungsbrücken beidseits des Flusses geschäftiges Treiben. Lastkähne, kleine Kutter, Barkassen, Ruderboote, Dampfschiffe mit rauchenden Schloten und Segelschiffe aller Art und Größe, wohin das Auge auch blickte! Es war ein ständiges Kommen und Gehen, auf dem Wasser wie an Land. Hier wurde ein plumpes Kohlenschiff entladen, dort warf gerade eine stolze Bark mit einer Ladung Vieh die Leinen los, an der nächsten Landungsbrücke arbeitete die Mannschaft einer vom Sturm gezeichneten Brigg an der Beseitigung der Schäden und schon ein kurzes Stück weiter strömten gut zweihundert Auswanderer mit ihrem kümmerlichen Hab und Gut auf ein englisches Fährschiff, das sie erst nach Liverpool bringen würde, um von dort mit einem größeren Segler die Überfahrt nach Amerika anzutreten. Und gleich dahinter rollten Fässer auf einen Küstenschoner. An manchen Stellen konnte man hinter all den Lastkrähnen sowie den Masten, Segeln und Schloten der Schiffe kaum die prachtvollen Gebäude erkennen, die das rechte Flussufer säumten.
Doch heute fiel es Éanna schwer, sich an dem malerischen Anblick zu erfreuen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit, fast vermeinte sie, bohrende Blicke in ihrem Rücken zu spüren. Ärgerlich schalt sie sich selbst. So ein Unsinn! Wer hätte schon ein Interesse daran haben können, sie zu beobachten? Es war eindeutig ihr schlechtes Gewissen gegenüber Brendan, das sich da meldete. Je schneller sie ihr Treffen mit Mister O’Brien hinter sich brachte, desto eher würde sich die ganze Sache erledigt haben und damit auch ihre Gewissensbisse.
Was für eine lebendige und wunderschöne Stadt Dublin doch sein könnte, wenn es dieses fürchterliche Elend nicht gäbe, dachte sie noch und ging dann schnell weiter.
Die Queens Bridge mündete auf dem Nordufer in die Sackville Street, eine Prachtstraße mit einer langen Front gepflegter Häuserfassaden. Eine hohe schlanke Säule, gekrönt von einer Statue, die Admiral Nelson darstellte, erhob sich auf halber Strecke in der Mitte der breiten Promenade. Hier begann eine andere Welt. Éanna bestaunte die vielen exklusiven Geschäfte, die den flanierenden Passanten und betuchten Kunden durch ausladende Markisen Schutz vor Sonne und Regen boten. Über das Kopfsteinpflaster ratterten herrschaftliche Equipagen, Einspänner, gediegene Mietdroschken und Fuhrwerke. Die Straße war bevölkert von Dienstboten und Laufburschen sowie elegant gekleideten Dubliner Bürgern, herausgeputzten Seeoffizieren und britischen Soldaten in rot leuchtenden Uniformen, die den sonnigen Tag zu einem Spaziergang und Schaufensterbummel nutzten.
Alle versuchten sie geflissentlich, die vielen zerlumpten Bettler zu ignorieren, die auf ein Almosen hofften und es immer wieder schafften, den Konstablern zu entkommen, die sie mit Knüppeln zu vertreiben versuchten.
Je näher Éanna ihrem Ziel kam, desto unruhiger wurde sie. Fast wünschte sie jetzt, das Telegramm nicht geschickt zu haben. Was natürlich unsinnig war. Denn dann hätte sie jetzt mit Emily und Caitlin im Gefängnis gesessen. Und Brendan hätte sie vermutlich niemals wiedergesehen.
Andererseits musste sie sich auch eingestehen, dass sie sich insgeheim darauf freute, Patrick O’Brien zu treffen. Denn er war so völlig anders als alle Menschen, denen sie in ihrem Leben bisher begegnet war. Er war auf eine aufregende Art unberechenbar und offenherzig.
Sie brauchte nur an ihre erste Begegnung in Ballinasloe zu denken! Da hatte sie ihm in ihrer Not seinen versilberten Spazierstock stehlen wollen und war dabei von einem feisten Fleischer auf frischer Tat ertappt worden. Sofort hatte es einen Menschenauflauf gegeben und ihr Schicksal war damit eigentlich schon besiegelt gewesen. Doch er hatte sie nicht vom herbeigerufenen Konstabler abführen lassen, sondern ganz im Gegenteil sogar vor dem Gefängnis bewahrt! Und anschließend hatte er sie, zerlumpt, wie sie war, auch noch zum Essen in die Taverne eingeladen.
Auch bei ihrer zweiten Begegnung auf der Landstraße nach Carlow hatte er sich völlig anders
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