Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
die Wette gestrahlt.«
»Ach, Neill«, sagte sie aufschluchzend und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Es hätte alles so wunderbar sein können. Doch ich habe es einfach nicht länger ausgehalten.«
»Und was ist es, was Ihr nicht länger habt aushalten können?«, fragte der Junge.
»Die Arbeit in der Spinnerei unten am Grand Canal«, antwortete sie und erzählte mit stockender Stimme, dass sie ihren lange herbeigesehnten Arbeitsplatz nach nicht einmal drei Tagen schon wieder verloren hatte und nicht wusste, was werden sollte. »Warum konnte ich bloß nicht durchhalten wie meine Freundin Emily und all die anderen Frauen und Mädchen, die da tagaus, tagein an den Maschinen stehen? Wo es doch so schwer ist, überhaupt Arbeit zu finden, und ich schließlich für Miete und Essen aufkommen muss!«
»Das ist natürlich bitter, Miss Sullivan«, sagte Neill Duffy mitfühlend. »Aber ich bin sicher, dass Ihr Euer Bestes in der Spinnerei gegeben habt. Und wenn es dann trotz allem nicht gereicht hat, dann sollte es wohl einfach nicht sein. Also macht Euch nicht selber das Herz schwer. Ich bin sicher, dass Ihr schon bald eine andere Arbeit findet.«
Éanna wusste, dass er sie trösten wollte, doch sie war zu verzweifelt, um die Zuversichtliche zu spielen. »Aber was könnte das schon sein, Neill?«, fragte sie stattdessen mutlos.
»Hmm«, machte er und nagte an seiner Unterlippe, während er nachdachte. Doch so schnell schien auch ihm keine rechte Lösung einzufallen.
Das Knirschen von Rädern auf dem einfachen Lehmpfad ließ beide aufblicken. Ein Mann, der einen Karren hinter sich herzog, näherte sich ihnen langsam. Éanna erkannte an den Lumpen und Knochen auf seinem Wagen, dass es sich um einen Tugger handeln musste. Diese Männer und Frauen zogen mit ihren Karren durch die Vorstädte und über das Land und sammelten überall Altkleider, abgelegte Schuhe, Knochen und andere Dinge ein, die sich noch irgendwie verwerten ließen. Mit ihnen belieferten sie dann die Händler der Trödel- und Kleidermärkte.
Die Tugger mit ihren klobigen Kastenkarren waren in Dublin allgegenwärtig. Aber bisher wäre es Éanna nie in den Sinn gekommen, sich selbst als Lumpensammlerin zu versuchen. Doch in diesem Moment erschien ihr der Mann mit dem Karren wie ein Fingerzeig Gottes. In seiner großen Güte hatte er ihr einen Ausweg gezeigt!
Auch Neill war begeistert von der Idee.
»Das müsste Euch doch liegen, Miss Sullivan«, rief er im Brustton der Überzeugung aus. »Ihr habt ein so freundliches und einnehmendes Wesen. Wenn Ihr an die Dienstbotentür eines vornehmen Hauses klopft und nach Altkleidern bittet, wird es jedem, der nicht gerade ein Herz aus Stein hat, schwerfallen, Euch ohne ein paar abgelegte Sachen weiterziehen zu lassen.«
Éanna lachte. Doch schon einen Moment später griff die Ernüchterung nach ihr.
»Ich wüsste gar nicht, wie ich an so einen Karren kommen, geschweige denn wie ich einen Händler finden soll, der mir die Sachen abkauft«, sagte sie. »Sofern ich denn überhaupt genug Altkleider zusammenbetteln kann. Auch habe ich gar keine Ahnung, was man für die einzelnen Sachen bekommt.«
»Das habt Ihr im Handumdrehen heraus, Miss Sullivan!«, versuchte Neill sie zu beruhigen. »Und was einen Abnehmer angeht, so kenne ich da einen vertrauensvollen Händler, der Euch bestimmt nicht übers Ohr hauen wird. Sein Name ist Ebenezer Lahiffe. Er hat seine eigene Truppe von Tuggern. Ich glaube, er stellt ihnen sogar die Karren! Seinen Laden hat er auf dem New Market, genau gegenüber der Gasse, durch die man zur Mill Street kommt. Ihr werdet ihn leicht finden. Haltet bloß Ausschau nach einem breitschultrigen, kräftigen Mann, dem ein schwarzer Vollbart bis auf die Brust fällt.«
Unschlüssig sah Éanna ihn an. »Du meinst also wirklich, ich sollte mich als Tugger versuchen?«
»Wenn es Euch nichts ausmacht, bei Wind und Wetter unterwegs zu sein, ist es das, was ich Euch raten würde!«, bekräftigte er.
Sie lachte auf. »Ich bin doch gar nichts anderes gewohnt, als bei jedem Wind und Wetter draußen zu sein.«
»Dann seht zu, dass Ihr zu Mister Lahiffe kommt!«, forderte Neill sie auf. »Was habt Ihr schon groß zu verlieren? Und sagt ihm, dass ich Euch geschickt habe. Nicht dass mein Wort bei vielen in der Stadt etwas wert wäre. Aber bei Mister Lahiffe könnte es Euch doch von Nutzen sein.«
»Du hast recht. Zu verlieren habe ich wahrlich nichts«, räumte Éanna ein und erhob sich mit einem Ruck.
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