EB1021____Creepers - David Morell
dachte.«
Vinnie rieb sich die Hände. »Natürlich müssen wir noch raus‐
finden, welche Suite Danata hatte.«
»Sechshundertzehn«, sagte Conklin. »Dem Tagebuch zufol‐
ge hatte man von dort aus die beste Aussicht des ganzen Ho‐
tels.«
»Nicht von dem Penthouse aus?«
»Aufgrund seiner Agoraphobie hat Carlisle große Fenster
nicht ertragen können. Ein ungehinderter Blick auf das Meer
hätte ihn in Panik versetzt. Aber er hat sich andere Ausblicke
verschafft. Als ich euch vorhin erzählt habe, dass Aristoteles
Onassis das Hotel kaufen wollte, habe ich nicht erwähnt, dass
Carlisle das Hotel selbst dann nicht hätte verkaufen können,
wenn er in Versuchung gewesen wäre, es zu tun. Ohne größe‐
re Umbaumaßnahmen hätte das zu einer öffentlichen Blamage
und wahrscheinlich zu seiner Verhaftung geführt.«
»Verhaftung?«, fragte Rick überrascht. »Wegen seiner Neu‐
gier. Das Gebäude hat verborgene Gänge, die es ihm erlaub‐
ten, seine Gäste zu beobachten, ohne dass sie es wussten.«
»Gucklöcher? Einwegspiegel?« Balenger kritzelte hastig.
»Carlisle hatte noch andere Probleme als nur seine Hämo‐
philie. Er hat das Tagebuch nicht vernichtet, weil er der An‐
sicht war, es habe eine gesellschaftliche Funktion. Er hat sich
selbst als eine Kreuzung aus einem Soziologen und einem Hi‐
storiker betrachtet.«
»Wer weiß noch alles davon?«
»Niemand«, sagte der Professor. »Carlisle hatte keine Er‐
ben. Der Mann, der den Nachlass verwaltet, hat bemerkens‐
wert wenig Interesse an seinem Mandanten. Er ist ein leerge‐
sichtiger Bürokrat. Der Typ, der schon mit fünfzig an nichts
anderes mehr denkt als an seinen Ruhestand. Erledigt seine
Arbeit als reine Routinesache. Keinerlei Ausdruck in den Au‐
gen. Erinnert mich an meinen Dekan in Buffalo. Ich habe das
Tagebuch ganz unten unter Carlisles Papiere geschoben. Er
wird’s nie merken. Aber wenn wirklich eine Universität diese
Dokumente kauft, werden irgendwann viele Leute wissen,
was ich euch gerade erzählt habe. Natürlich wird es dann kei‐
nen Unterschied mehr machen. Das Hotel wird zu diesem
Zeitpunkt ein leeres Baugrundstück sein. Deshalb ist dies ja
das bedeutendste Gebäude, das wir je infiltriert haben. Die
Gelegenheit, die Geschichte des Paragon zu überprüfen und
zu dokumentieren, hat alle möglichen kulturellen Aspekte, die
geradezu danach schreien, irgendwann in einem Buch zu‐
sammengefasst zu werden.«
»Von dem ich doch hoffe, dass Sie’s schreiben werden«,
sagte Vinnie.
»Mein abschließendes Vorhaben.« Der Professor sah erfreut
aus.
Cora warf einen Blick auf die Uhr. »Dann sollten wir wohl
besser anfangen. Die Zeit vergeht schnell.« Balenger richtete
den Strahl seiner Stirnlampe auf seine Uhr und stellte zu sei‐
ner Überraschung fest, dass schon fast eine Stunde vergangen
war, seit sie das Motel verlassen hatten. Die Zeit schien zu‐
sammengepresst zu sein wie die Luft in dem Tunnel.
Cora warf einen Blick auf die Postfächer und griff in eines
der wenigen hinein, in denen eine Mitteilung steckte. Das Pa‐
pier war brüchig. »Hm, Mr. Ali Karims Kreditkarte scheint
nicht mehr gültig zu sein. Der Manager würde gern mit ihm
sprechen. Na ja, das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein, Mr.
Karim. Mir ist das auch schon ein paar Mal passiert.« Sie setzte
ihren Helm wieder auf, trat hinter der Rezeptionstheke hervor
und schloss sich den anderen an.
»Schade, dass die Aufzüge nicht funktionieren«, sagte Vin‐
nie. »Wir müssen eine Menge Treppen raufsteigen. Schaffen
Sie das, Professor?«
»Versucht, nicht zu weit zurückzubleiben.« Balenger mu‐
sterte wachsam die dunklen Ecken, als er und die anderen das
Foyer durchquerten. »Das ist der Ballsaal.« Conklins Stirnlam‐
pe zeigte ihnen offene Türen zur Rechten und einen leeren
Raum mit Eichenparkett dahinter.
»Kann ich diesen Tanz von dir bekommen, Cora?«, fragte
Rick.
»So ein Mist, meine Tanzkarte ist schon voll. Aber das ein‐
zig Wichtige ist ja, wer mich nach Hause bringt.« Rick sah in
den Ballsaal hinein, lächelte und verschwand.
Ein paar Sekunden später begann ein verstimmtes Klavier
»Moon River« zu spielen. »Mein Lieblingsstück«, sagte Cora
zu den anderen. »Ein bisschen altmodisch für jemanden in
deinem Alter, oder?«, zog der Professor sie auf.
»Rick und ich lieben diese alten Filme, für die Henry Man‐
cini die Songs geschrieben hat. Die Romantischen. Die
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