Ebbe und Glut
Ferienwohnung. Aber die Kinder wurden größer, wir brauchten mehr Platz und behielten die Wohnung schließlich für uns. Meine Mutter lebt inzwischen auch nicht mehr. Dafür haben wir jetzt einen Haufen Enkel, die hier ihre Ferien verbringen – so, wie meine Kinder damals.« Marlit Kessler seufzte leise. »Arthur war seit seinem Unfall nicht mehr hier. Er behauptet, dass er es nicht mehr schafft, die weiten Wege zu Fuß zurückzulegen.«
Mia dachte an ihren Ausflug mit Arthur ans Meer. Er hatte dort, wie ihr jetzt erst klar wurde, auf dem unebenen Steinstrand für seine Verhältnisse beachtliche Strecken zurückgelegt, langsam zwar und mit vielen Pausen, aber er war gelaufen. »Kann er denn Fahrradfahren?«, fragte sie. Autos durften auf Spiekeroog nicht fahren, dafür war die Insel zu klein. Aber Mia hatte keine Ahnung, was man mit so einer Prothese alles leisten konnte.
»Er kann«, erwiderte Marlit. »Er kann mittlerweile natürlich auch längere Strecken zu Fuß gehen, aber ich schätze, in Wahrheit hält er die Erinnerungen an Carol nicht aus. Die beiden haben viele Urlaube hier verbracht.«
Richtig, erinnerte Mia sich plötzlich, Carol kannte sich gut auf der Insel aus. Auf einmal fiel ihr so vieles wieder ein, was sie längst vergessen hatte.
Nachdenklich schaute sie sich um. Sie suchte vergeblich den erwarteten Prunk in dem ehemaligen Fischerhaus. Dafür fand sie warme Gemütlichkeit. Das Haus war in hellen, freundlichen Farben und mit rustikalen Möbeln eingerichtet. Auf den Fensterbänken lagen Steine und Muscheln, von den Decken baumelten außergewöhnliche Mobiles aus Treibgut, in den Ecken standen Skulpturen aus Metall und Stein. Und überall gab es Bücher. Sie standen in Regalen und stapelten sich auf Tischchen, Stühlen und den knarzenden Dielenböden, abgegriffene Taschenbücher und dicke Wälzer in teuren Einbänden, Romane, Sachbücher, Bildbände.
Am wenigsten war Mia jedoch auf die Fotos vorbereitet. Bereits im Flur hingen drei große, gerahmte Fotografien, die Kinder am Strand zeigten: einen kleinen, blonden Jungen, der auf dem Schoß einer sehr jungen Marlit in den Dünen saß. Einen anderen, dunkleren Jungen, der eine Sandburg baute. Drei Jungen, die wie die Orgelpfeifen vor einem Strandkorb standen. Arthur und seine Brüder.
Mia hatte sich einmal vorzustellen versucht, wie der kleine Arthur mit verstrubbelten Haaren und Zahnlücke aussah. Jetzt wusste sie es. Er war ein niedlicher Junge, der fröhlich und unbekümmert in die Welt schaute. Im Wohnzimmer entdeckte Mia auf einer weiß lackierten Kommode zwischen zahlreichen anderen Familienbildern ein Foto von Arthur und Carol – eng umschlungen lachten sie in die Kamera, ein hübsches Paar, das wie füreinander geschaffen schien. Auf einem Bild sah sie Arthur mit einer Startnummer auf der Brust joggen - »Er lief Marathon«, erklärte Marlit -, auf einem anderen Bild stieg er mit einem Surfbrett unterm Arm aus der Nordseebrandung.
Die Fotos waren ein Schock für Mia.
Sie war nicht darauf vorbereitet, in jedem Winkel dieses wunderschönen Hauses auf Arthur zu stoßen. Arthur, der Sohn, der Bruder, der Ehemann. Arthur, der sein Leben lang in Bewegung war, vital, kraftvoll, glücklich.
»Tobias, unser Ältester malt heute noch viel«, erklärte Marlit und verwies auf einige Acrylbilder mit abstrakten Motiven. »Jakob spielte früher ständig Klavier. Das hat er leider fast aufgegeben.« Ihr Blick fiel auf ein altes Klavier im Wohnzimmer.
»Und Arthur?«, fragte Mia neugierig. »Was hat Arthur gemacht?«
»Arthur hat alles gemacht. Er hat geschrieben, musiziert, und vor allem war er der Sportler unter unseren Jungs.«
»Geschrieben? Was hat er denn geschrieben?«
»Ach, alles Mögliche.« Marlit Kessler stellte zwei Tassen aus feinem, weißen Porzellan auf den Couchtisch. »Wir glaubten lange, er wolle Journalist werden. Oder vielleicht sogar in die Fußstapfen seines Vaters treten. Aber dann fand er es plötzlich spannender, sich mit Ökonomie zu beschäftigen.« Die Enttäuschung darüber war ihr immer noch anzumerken.
Mia setzte sich zwischen bunte Kissen auf ein Sofa. Marlit Kessler schenkte Tee ein und bot ihr Kekse an.
»Aber Juristen beschäftigen sich doch unter Umständen auch viel mit Wirtschaft«, warf Mia ein.
»Juristen?«
»Ja, ich dachte, Ihr Mann sei Jurist.« Mia erinnerte sich dunkel daran, dass Arthur so etwas erwähnt hatte.
Marlit Kesslers Blick war kühl. »Ja, gewiss. Aber Boy arbeitet ja vor allem als
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