Ebbe und Glut
war nur neugierig, weil ich für das Unternehmen arbeite.«
»Ach.« Die Frau musterte Mia abschätzend. Sie war eine elegante Erscheinung, klein, zierlich, mit kinnlangen, fast weißen Haaren. Ihre wachen blauen Augen ließen ihr wettergebräuntes, faltiges Gesicht, das dezent geschminkt war, sehr lebendig erscheinen. »Was machen Sie dort?«
Mia erzählte ein wenig. Die Frau nickte anerkennend.
»Mein Sohn hat auch mit der Firma zu tun. Ich schätze, dieser Preis wird ihn freuen.«
»Ihr Sohn? Kenne ich ihn vielleicht?«
»Vermutlich. Schließlich gehört ihm der halbe Laden. Kessler. Arthur Kessler.«
Mias Herz setzte einen Schlag lang aus.
»Sie sind Arthurs Mutter ?«
Die Frau, die Arthurs Mutter war, musterte Mia aufmerksam mit diesen wachen, lebhaften Augen. Arthurs Augen, wie Mia jetzt erkannte.
»Sie kennen ihn also«, stellte Arthurs Mutter fest.
»Ja. Ich … wir kennen uns ganz gut. Ich bin sozusagen eine Freundin von Arthur.«
»Eine Freundin?« Arthurs Mutter kräuselte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Arthur hat keine Freundinnen. «
Mia lächelte nachsichtig. Natürlich, keine Mutter dieser Welt nahm an, dass ihr Söhnchen jemals erwachsen wurde und sich für Frauen interessierte – und sei es nur auf rein freundschaftlicher Basis. Zu ihrer Überraschung fügte Arthurs Mutter jedoch in kühlem, fast verächtlichem Ton hinzu: »Mein Sohn hat Gespielinnen. «
Mia schoss die Röte ins Gesicht. Ihre bemüht harmlose Formulierung war von Arthurs scharfsinniger Mutter sofort entlarvt worden. »Nun ja, ich …« Verlegen brach sie ab.
»Keine Sorge, mich erschüttert das nicht. Die Frauen im Leben meines Sohnes kommen und gehen, das ist nichts Neues für mich.« Arthurs Mutter schlang sich eine bunte Stola enger um die mageren Schultern und lehnte sich zurück. Sie trug unter der Stola einen cremefarbenen, raffiniert geschnittenen Pullover mit ausgestellten Ärmeln, der perfekt zu einer weiten Hose aus weichem, fließendem Stoff im selben Farbton passte. Alle anderen Gäste trugen bequeme Jeans, praktische Sweatshirts und warme Fleecejacken. Ein Urlaub an der Nordsee eignete sich nicht dazu, elegante Kleidung zur Schau zu stellen. Es sei denn, man hieß Kessler.
»Aber mit seiner Frau war er doch lange zusammen«, wandte Mia ein und biss sich sofort vor Ärger auf die Lippe. So weit kam es noch, dass sie Arthur vor seiner Mutter verteidigte.
Neugier blitzte in den ozeanblauen Augen auf. »Sie kannten Carol?«
»Nur flüchtig.«
»Verstehe. Hat Carol Sie auf die Idee gebracht, hierher auf die Insel zu kommen?« Die blauen Augen musterten sie mit demselben intensiven Blick, mit dem Arthur sie so oft ansah.
»Nein.« Mia erklärte, wie sie Carol kennengelernt hatte.
Arthurs Mutter hörte ihr aufmerksam zu. Trotz ihres Alters war sie immer noch eine attraktive Frau, die eine kühle Eleganz ausstrahlte.
»Es hat mich sehr berührt, als ich erfuhr, dass Carol nur wenige Wochen nach diesem Urlaub damals gestorben ist.«
Arthurs Mutter warf Mia einen eigenartigen Blick zu. »Woher wissen Sie von dem Unfall?«
»Von Arthur.«
Weil Arthurs Mutter immer verwunderter wirkte, fügte Mia ein paar erklärende Sätze über ihren Kontakt zu Arthur hinzu. Sie erwähnte natürlich weder Arthurs Anzeige noch seine eigenwilligen sexuellen Vorlieben, sondern behauptete, ihn bei Elbzeug kennengelernt zu haben. Arthurs Mutter hörte mit regloser Miene zu. Ihr Blick, der trotz ihrer Neugier anfangs kühl und fast abwehrend geblieben war, wurde nun weicher, zugänglicher.
»Es erstaunt mich, dass Arthur Ihnen von dem Unfall erzählt hat. Er spricht sonst nie darüber«, sagte sie.
Mia zögerte. Sie wollte Arthur nicht bloßstellen, aber seine Mutter schien auf eine Erklärung zu warten. Mit wenigen Worte erzählte Mia von Arthurs Panikattacke auf der Autobahn. »Er sah sich wohl gezwungen, sein Verhalten irgendwie zu erklären. Ich glaube auch nicht, dass er geplant hatte, mir sein Bein zu zeigen. Auch das hat sich einfach aus der Situation ergeben.«
»Er hat Ihnen sein Bein gezeigt?« Arthurs Mutter schüttelte erneut den Kopf, diesmal in ungläubigem Staunen. Sie musterte Mia lange und nachdenklich. Schließlich beugte sie sich vor und streckte ihr eine Hand entgegen.
»Ich bin Marlit«, sagte sie mit einem unerwartet herzlichen Lächeln.
Mia ergriff die Hand mit den zahlreichen Goldringen an den Fingern und den sehr sorgfältig lackierten Nägeln und drückte sie sanft. »Ich bin
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