Ebbe und Glut
dass etwas Furchtbares geschehen war. Daran wollte sie jedoch nicht glauben. Noch nicht.
Und sie behielt recht. Am vierten Tag ihres Wartens öffnete sich die Tür und Arthur fiel ihr regelrecht vor die Füße.
Sie handelte schnell und überlegt. Ihr Sohn war in einem unbeschreiblichen Zustand. Abgemagert, ungewaschen und unrasiert, in alten, fleckigen Kleidern, die er vermutlich seit Tagen nicht mehr gewechselt hatte. So hatte sie ihn noch nie gesehen, und fast wäre es ihr lieber, sie hätte ihn auch jetzt nicht zu Gesicht bekommen. Sie wollte gar nicht wissen, wie er die letzten Wochen verbracht hatte, sein Äußeres sagte ihr alles. Am liebsten hätte sie ihren Sohn unter eine heiße Dusche gestellt, ihm die Kleider gewechselt und ihn ausgenüchtert, bevor sie Hilfe holte. Doch sie erkannte, dass sein Zustand kritisch war. Seine Stirn glühte vor Fieber, und er war ganz offensichtlich nicht nur umgekippt, weil er zu viel Whisky getrunken hatte. Sie wagte nicht, ihm die Hose hochzustreifen und die Prothese abzunehmen, aus Furcht vor dem, was sie dort sehen könnte. Marlit griff zum Telefon und rief einen Krankenwagen.
Nach einer vollständigen Ausnüchterung und Entgiftung sah Arthur wieder klarer. Dumpf erinnerte er sich an seine Irrfahrt quer durch Europa. Völlig ziellos war er umher gereist, ohne einen genauen Plan, ohne ein konkretes Ziel. Er wollte einfach nur weg.
Bilder von schummrigen Bars, nackten Mädchen und zwielichtigen Männern stiegen in ihm auf und verflüchtigten sich wieder. Er hatte dieses Milieu immer schon gemocht, vielleicht, weil es so ganz anders war als das saubere, glatte Leben, das er sonst führte. Doch noch nie war er so tief eingetaucht, hatte sich so sehr in zügellosen Begierden verloren und sich dabei zunehmend selbst aufgegeben.
Eigentlich hätte er es viel leichter haben können, dachte er bitter, während er in seinem sauberen Krankenhausbett lag. Er hätte einfach mal eine ganze Packung Tabletten auf einmal schlucken müssen, nicht nur eine halbe. Dann wäre er auch ganz weg gewesen und nicht nur halb. Aber etwas hatte ihn davon abgehalten, sein Tod auf Raten war eine halbherzige Angelegenheit, er wollte offenbar doch nicht so dringend sterben, wie er die ganze Zeit geglaubt hatte.
Es dauerte lange, bis er zwischen all den Schichten aus Hoffnungslosigkeit, Trauer, Angst und Zorn wieder ein Stückchen Himmel sah - tiefblauen Sommerhimmel, der die Berge rings um Davos nah und groß erscheinen ließ.
Die Heilung seines entzündeten Beins war ein langwieriger Prozess. Doch sie war nichts im Vergleich zu der Kraft und Geduld, die es kostete, die Einzelteile seines Lebens neu zusammenzufügen.
Nachdem er wieder klarer sah, entschied Arthur sich bewusst für eine Klinik in der Schweiz. Er wollte an einem Ort gesund werden, an dem ihn kein Arzt oder Physiotherapeut kannte, an dem sich niemand fragte, was aus dem Vorzeigepatienten Arthur Kessler geworden war.
Es kostete ihn ohnehin Überwindung genug, sich auf diesen Weg zu begeben. Jahrelang hatte er alle wohlmeinenden Versuche seiner Ärzte und seiner Familie, sich nach dem Unfall professionelle Hilfe zu suchen, eisern abgelehnt.
»Ich habe mein Bein verloren, nicht meinen Verstand«, sagte Arthur mit einer Entschiedenheit, die jede weitere Diskussion zu dem Thema im Keim erstickte.
Einmal, in der Zeit, als er bei seinen Eltern in Hamburg lebte, kam ein Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt und gerötetem Gesicht zu Besuch.
»Du erinnerst dich doch sicher noch an Pastor Eschenbach«, sagte Marlit, und in leichtem Plauderton sprachen sie über das Wetter und Politik und das Leben mit einer Behinderung.
»In unserer Gemeinde gibt es einen jungen Rollstuhlfahrer«, erzählte Pastor Eschenbach. »Er ist seit einem Motorradunfall querschnittsgelähmt. Im letzten Jahr ist er beim Hamburger Marathon mitgefahren. Ich bewundere ihn für seinen Lebensmut.«
Arthur nickte mit finsterer Miene und sagte kein Wort. Zum Abschied sagte Pastor Eschenbach: »Wenn Sie mögen, stelle ich gerne mal den Kontakt zwischen Ihnen und diesem jungen Rollstuhlfahrer her.«
»Vielen Dank.« Arthurs Gesicht war versteinert. »Aber ich habe kein Interesse an wohltätigen Kontakten zu Krüppeln aus der Nachbarschaft.«
Pastor Eschenbach zuckte zusammen. »Ich dachte nur, es könnte hilfreich für Sie sein«, stammelte er erschrocken.
»Nein, das ist es nicht. Es ist mir lästig.« Damit wandte Arthur sich von ihm ab.
Später tobte er vor Wut.
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