Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Burkhardt
Vom Netzwerk:
»Was soll das?«, fuhr er Marlit an. »Wieso holst du diesen Pfaffen ins Haus? Sollte er mir die letzte Ölung erteilen? So tot bin ich leider noch nicht. Und wehe, es kommt hier noch mal jemand auf die Idee, mich mit irgendwelchen gesellschaftlichen Randgruppen zu verkuppeln. Dann ziehe ich heute noch in ein Hotel.«
    Marlit und Boy starrten ihn entgeistert an. »Noch bist du tatsächlich nicht tot«, sagte Boy Kessler schließlich und zog gelassen an seiner Pfeife. »Aber es dauert nicht mehr lange, wenn du so weitermachst.«
    »Nicht, du machst es nur noch schlimmer«, rief Marlit entsetzt und bemühte sich vergeblich, die Wogen wieder zu glätten.
    Zwei Wochen später erklärte Arthur, er habe eine Wohnung gekauft. Er war überhaupt noch nicht in der Lage, sich wieder selbst zu versorgen, aber er ertrug die wohlmeinenden Ratschläge, die Fürsorge und vor allem die Liebe seiner Eltern nicht länger. Lieber bezahlte er eine Haushälterin. Und eine Geliebte. Und er trainierte mit einer beinah selbstzerstörerischen Verbissenheit, bis er mit seiner Prothese laufen konnte und auch seine Arme und Schultern nach den Brüchen wieder voll belastbar waren.
     
    In Davos saß er auf einmal Dr. Beat Wiesner gegenüber. Arthur war überrascht, dass ein so junger, sportlich aussehender Mann sein Seelenklempner sein sollte. Was wusste dieser Kerl, der sicher noch keine vierzig war, schon vom Leben? Arthur bereute seine Entscheidung schon wieder und verweigerte in den ersten Stunden die Zusammenarbeit. Mürrisch erzählte er ein paar belanglose Details über den Unfall und ließ Dr. Wiesner gegen eine Wand laufen.
    In der dritten Sitzung fragte Beat Wiesner: »Warum sind Sie eigentlich hier, Arthur?«
    »Das frage ich mich auch.«
    »Wenn Sie keinen Sinn in der therapeutischen Arbeit sehen, müssen wir nicht weiter machen. Das ist ja hier keine Pflichtveranstaltung, und ich möchte weder Ihre noch meine Zeit vergeuden.«
    »Gut«, sagte Arthur erleichtert. »Hören wir auf mit dem Unsinn. Ich hätte mir denken können, dass es nichts bringt.«
    »Aber Sie hatten gehofft, es könne etwas bringen?«
    »Ja.«
    »Was genau hatten Sie sich denn erhofft?«
    Arthur dachte nach. »Dass es mir besser geht.«
    »Jetzt geht es Ihnen also nicht gut?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    Was für eine bescheuerte Frage. »Weil ich meine Frau verloren habe. Und mein Bein.«
    »Nun wissen wir beide, dass ich Ihnen weder Ihre Frau noch Ihr Bein zurückgeben kann. Was genau haben Sie sich also von mir erhofft?«
    Arthur dachte erneut nach. Ja, was hatte er sich erhofft? Er wollte wieder lachen. Er wollte wieder lieben. Er wollte wieder glücklich sein.
    »Ich möchte mein altes Leben wiederhaben«, sagte er.
    »Wie ich schon sagte, Ihre Frau und Ihr Bein kann ich Ihnen nicht wiedergeben. Ihr altes Leben ist fort. Sie haben jetzt ein neues Leben.«
    »Ich habe kein neues Leben. Ich habe nichts.«
    »Tatsächlich? Wie sieht dieses Nichts denn aus?«
    Die Fragen kamen schnell und verwirrten Arthur. Er fand kaum Zeit zum Nachdenken. »Finster. Und leer.« Er war erstaunt über seine eigene Antwort.
    Dr. Beat Wiesner nickte bekümmert. »Finster und leer«, wiederholte er, und die Worte klangen aus seinem Mund sehr bedrohlich. »Was ist so schlimm an diesem finsteren, leeren Nichts?«
    Arthurs ganzer Körper verkrampfte sich. Er spürte die Dunkelheit körperlich. Die Einsamkeit. Die Kälte.
    »Das Schlimmste ist, dass ich so alleine bin. Dass ich mich wie tot fühle.« Eine unbeschreibliche Sehnsucht schlug wie eine riesige Welle über ihm zusammen. »Ich will aber nicht tot sein.« Er würgte. »Ich will leben. Ich weiß nur nicht, wie.« Die Tränen kamen ganz plötzlich, er konnte sie nicht aufhalten, das Weinen zerriss ihn fast. »Ich weiß nicht, wie ich diese Angst wieder loswerde. Und diese Dunkelheit. Ich will doch nur leben, einfach nur leben. Darum bin ich hier.«
    Dr. Beat Wiesner lehnte sich erleichtert in seinem Sessel zurück. Sie konnten mit der Arbeit beginnen.
     
    Die Frau, die Arthur an Mia erinnerte, stand auf und ging mit ihrer Begleiterin in den angrenzenden Garten. Arthur sah ihnen nach.
    Es überraschte ihn, mit was für einem intensiven Gefühl er auf einmal an Mia dachte. Damals, als er sie kennenlernte, hatte er ihre Nähe kaum ertragen, und gleichzeitig sehnte er sich nach ihr, wenn sie nicht da war. Es gab Tage, an denen hätte er sie am liebsten zurückgerufen, kaum dass sie seine Wohnung verlassen hatte. Doch was hätte er

Weitere Kostenlose Bücher