Ebbe und Glut
ihr sagen sollen? »Magst du mir Gesellschaft leisten? Ich fühle mich einsam, und du bist der einzige Mensch, den ich nicht nach fünf Minuten aus der Wohnung schmeißen möchte – obwohl ich es meistens dann doch tue. Aber nur, weil wir dieses alberne Spiel spielen und ich nicht weiß, wie ich es beenden soll.«
Er hatte sie von Anfang an auf eine andere Weise begehrt als andere Frauen. Irgendwann war zu dem Begehren eine warme Zuneigung hinzu gekommen. Arthur erinnerte sich an jenen seltsamen Abend, als er das erste Mal für Mia gekocht hatte. Es tat so gut, mit einem anderen Menschen beim Essen zu sitzen und dabei diese ungewöhnliche Stille zu spüren, die sich normalerweise nur zwischen zwei Menschen einstellte, die sehr vertraut miteinander waren.
Aber dann entdeckte er, dass es keinen Mann in Mias Leben gab und dass ihn ihre Traurigkeit berührte. Er wusste später selbst nicht mehr genau, warum ihn diese beiden Entdeckungen so panisch werden ließen. Es war eine diffuse Angst vor zu viel Nähe, vor einer Intimität, die er nicht auszuhalten vermochte.
Und er hatte entsetzliche Angst davor, Mia von seinem Bein zu erzählen und ihr - und vor allem sich selbst! - eingestehen zu müssen, dass er unfähig war, sein neues Leben zu meistern. Dass er ein Versager war. Er, Arthur Kessler, der in seinem ganzen Leben noch nie versagt hatte.
Aber plötzlich versagte er ständig. Er stieß Mia vor den Kopf. Er fand nicht die richtigen Worte für sie. Er drehte durch und rannte weg. Dabei war er nie zuvor weggerannt. Niemals.
Auf einmal hatte er Mias Geruch in der Nase, diesen hauchzarten Duft nach Rosen und Frühling, der sie auf verführerische Weise umhüllte. Und er spürte mit einem brennenden Verlangen ihre weiche Haut unter seinen Händen.
Mia war die erste und einzige Frau, die ihn nach Carols Tod interessierte. Er hatte sie gefunden und durch seine eigene Blödheit wieder verloren. Voller Verzweiflung wurde ihm klar, dass er es komplett vermasselt hatte.
28
Sie glitten voller Leichtigkeit in den Herbst hinein. Henny meldete sich bei einer Singlebörse im Internet an - »Das solltest du auch machen, Mia, das bringt dich auf andere Gedanken!« - und erzählte schräge Geschichten von Männern, die sich für Krieger hielten und ihrer »Beute« Schutz und Fürsorge in Notzeiten anboten, und die sich selbst als zweiter Brad Pitt beschrieben und dabei in Wahrheit wie Marilyn Manson aussahen. Mia legte keinen Wert auf die Bekanntschaft solcher Zeitgenossen, obwohl sie diese Geschichten höchst amüsant fand und neidvoll anerkennen musste, dass Hennys Liebesleben eindeutig lebendiger war als ihr eigenes.
Aber Sex war ihr im Moment nicht so wichtig. Das Gefühl, dass vieles möglich war, mit einer neuen, ungeahnten Leichtigkeit, reichte ihr vollkommen. Es trug sie durch die nächsten Aufträge, die sich ganz überraschend wie von selbst ergaben, und durch die letzten Seiten ihres Romans, der endlich fertig wurde.
Energie breitete sich in Mia aus. Energie und eine überraschende Heiterkeit, mit der sie den Sommer verabschiedete, der sich viel zu schnell davon stahl.
Abends ging sie zu Frank und Rocco, um mit ihnen den Tatort zu gucken. In entspannter Dreisamkeit kuschelten sie sich auf Roccos Sofa und genossen die neue Vertrautheit, die zwischen ihnen entstanden war. Einmal unternahmen sie noch einen halbherzigen Versuch, erneut zu dritt im Bett zu landen, doch Mia fand es plötzlich überhaupt nicht mehr erregend, Roccos Zunge in ihrem Mund zu spüren, und als Frank ihre Bluse öffnete, schob sie ihn fort.
»Es geht nicht«, sagte sie und knöpfte die Bluse verlegen wieder zu.
Die beiden Männer standen ratlos und unsicher beieinander, dann nickten sie.
Es ging wirklich nicht. Was sie in jener Nacht in Franks Elternhaus erlebt hatten, würde sie ewig verbinden, aber es ließ sich nicht wiederholen. Entscheidend war nicht der Sex, sondern was sie dabei empfunden hatten: eine versöhnliche, verzeihende Nähe, die allen Groll auflöste, der zwischen ihnen gelegen hatte.
Was früher für Mia undenkbar gewesen war, schien nun auf einmal möglich. Ein friedliches Miteinander, frei von Eifersucht und Zorn. Während sie ihren Kopf an Franks Schulter lehnte und die Füße auf Roccos Beine legte, dachte sie, dass Rocco recht behalten hatte. Es gab viele Formen von Liebe, und es war dumm, sich nur auf eine einzige zu fixieren.
»Ich habe deinen Exkollegen neulich getroffen«, sagte Frank
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