Ebbe und Glut
Whiskyglas in der Hand am Fenster. Ohne zu fragen, schenkte er ihr ebenfalls einen Whisky ein. Schweigend standen sie nebeneinander und schauten wie so oft auf die Elbe hinaus. Der Scotch brannte in Mias Kehle. Ihr gingen jede Menge Fragen durch den Kopf, doch sie stellte keine einzige mehr.
In der nächsten Zeit ließen sie die Kondome immer häufiger weg. Sie verloren nie ein Wort darüber, es geschah einfach, ganz natürlich und selbstverständlich. Diese kleine Abweichung ihrer üblichen Routine veränderte ihr Verhältnis erstaunlicherweise mehr als das eingeführte Du. Das Weglassen eines kleinen Gummis bewirkte, dass zwischen ihnen eine Nähe entstand, die sie bis dahin nicht gehabt hatten. Mia streifte flüchtig Arthurs Schulter, wenn sie an ihm vorbei ins Wohnzimmer ging. Arthur streichelte ihr Haar, während sie vor ihm kniete, und hin und wieder berührte er sogar leicht ihre Wange. Es waren überraschend zärtliche Berührungen, doch Mia war sich nicht sicher, ob Arthur sie auch so bewusst wahrnahm wie sie selbst. Oft verharrten sie nach seinem Höhepunkt noch eine Weile in ihren jeweiligen Stellungen, stumm miteinander verschmolzen. Manchmal dachte Mia, dass es jetzt eigentlich weitergehen müsse, dass dies nur der Auftakt zu viel mehr sei, aber es ging nie weiter. Irgendwann öffnete Arthur die Augen, Mia stand auf, und der Zauber war vorbei.
Immer häufiger verkroch sie sich zuhause im Bett und gab sich ihrer eigenen Lust hin. In ihren Fantasien vollendete sie mit Arthur, was sie in der Realität nie taten: Sie zogen sich nackt aus und liebten sich hemmungslos. Sie stellte sich Arthurs knackigen Hintern vor, seine kräftigen Arme, den muskulösen Bauch, die langen, schlanken Beine und die Füße, die sicher so schön waren wie seine Hände. Sie stellte sich alles vor, was sie unter Arthurs Maßanzügen erahnte, jedoch nie zu Gesicht bekam. Sie streichelte und begehrte in Gedanken jeden Millimeter seines vollkommenen, männlichen Körpers, bis die Bilder in ihrem Kopf in einem Feuerwerk aus Lust und Begierde explodierten.
4
An einem regnerischen Tag Anfang Mai stand Mia bei Arthur vor verschlossener Tür. Sie klingelte mehrmals, ohne dass Arthur reagierte. Sie starrte in die Überwachungskamera über der Tür, als könne sie dort des Rätsels Lösung finden. Hatte sie sich im Termin geirrt? War Arthur krank geworden? Hatte er das Interesse verloren?
Feiner Nieselregen durchnässte ihre Jacke. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als ihr einfiel, dass sie sich nun nicht erneut mit Arthur verabreden konnte. Jeder ihrer Termine lag an einem anderen Wochentag, zu einer anderen Uhrzeit, es gab keinerlei Regelmäßigkeiten. Telefonnummern oder Mailadressen hatten sie nie getauscht. Die Mails vor ihrer ersten Begegnung hatten sie anonymisiert über eine Mailbox vom Szene-Magazin verschickt, die ihnen nicht mehr zur Verfügung stand. Das hatte Arthur nun also von seiner ewigen Geheimniskrämerei. Unschlüssig stand Mia vor dem Haus. Wenn sie jetzt ging und sich nie mehr rührte, war es vorbei. Vermutlich war das gut so. Hatte sie sich nicht schon viel zu lange verkauft? Zeit, zur Normalität zurückzukehren.
Der Regen wurde stärker und die Kälte kroch Mias Beine hinauf. Ein schwarzer Porsche kam mit dröhnendem Motor die Straße heruntergebraust. Auf Mias Höhe stoppte er nur unwesentlich ab und sauste mit beängstigender Geschwindigkeit in die Tiefgarage des Nachbarhauses. Genervt zog Mia ihre Kapuze dichter ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Sie gehörte nicht hierher, das hier war nicht ihre Welt.
Da öffnete sich die Haustür und eine Frau kam heraus. Mia reagierte blitzschnell. Die Frau, eine Asiatin, hatte ein müdes Gesicht und war einfach gekleidet, vermutlich machte sie in einer der schicken Wohnungen sauber. Mia schlüpfte an ihr vorbei durch den offenen Türspalt. Die Frau schaute ihr nicht mal hinterher. Mia ging die Reihen der Briefkästen durch. Sie war unsicher, welcher zu Arthur gehörte. Die Initialen A. K. passten genauso gut zu ihm wie der Kasten mit dem leeren Namensschildchen. Also fuhr sie mit dem Fahrstuhl hinauf in den vierten Stock. Sie riss ein leeres Blatt aus ihrem Kalender und kritzelte wenige Worte darauf:
»War heute vergeblich hier. Melde Dich, wenn Du mich wiedersehen möchtest. Mia.« Darunter schrieb sie ihre Handynummer. Den Zettel klemmte sie gut sichtbar unter die Fußmatte vor der Tür.
Entgegen ihrer üblichen Gewohnheit, den Heimweg immer zu
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